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Schizophrenie und Gewalt

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Aggressionsmuster - Ursachen - Motive - Risikofaktoren - Behandlungsfehler

Wenn es um seelisch Kranke im allgemeinen und die "Geisteskrankheit" Schizophrenie im speziellen geht und darüber hinaus das Gespräch auf die wachsende Gewaltbereitschaft kommt, dann kann man eine eigenartige Entwicklung beobachten:

Niemand will kranke Menschen diskriminieren, schon gar nicht solche mit einer psychischen Störung. Doch hat man gerade bei Schizophrenen ein "ungutes Gefühl", auch wenn man es nicht recht begründen kann. Selbst wenn man zugibt, dass es sich zumeist nur um "unglückliche Einzelfälle" handelt, was man vor allem durch die Medien, bisweilen auch durch Bekannte erfährt, so bleibt doch immer etwas hängen. Dies, vor allem was schizophrene "Täter" anbelangt, ist das Thema des folgenden Kapitels:

Schizophrenie - was ist das? Der tobende Geisteskranke. Wie denkt die Allgemeinheit, was ist der Kenntnisstand der Fachwelt? Welche psychischen Erkrankungen sind bei Gewalttaten am häufigsten beteiligt? Wer sind die Opfer? Ursachen und Risikofaktoren der Gewaltbereitschaft durch seelische Störungen, vor allem bei schizophren Erkrankten. Welche zwischenmenschlichen, beruflichen, nachbarschaftlichen und sonstigen Aspekte spielen als Auslöser eine Rolle?

Welche Aggressions-Motive muss man kennen: Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn, Gefühl der Fremdsteuerung, Reaktion auf Stimmen oder andere Sinnestäuschungen, wahnhafte Missdeutung der Umgebung, zu viele Menschen oder zu dichte Nähe, überzogene Leistungs- und Beziehungsansprüche, krankhafte Überaktivität oder soziale Desintegration, "Verrücktspielen" u.a. Was ist ein Stupor, was ein Raptus? Und: wendet sich die Fremd-Aggression auch einmal gegen den Betreffenden selber? Erhöht sich damit seine Selbsttötungsgefahr? Was kann man tun, was soll man vermeiden?


Erwähnte Fachbegriffe:

Gewalt - Gewaltbereitschaft - Aggressivität - Gewalt und seelische Störung - Gewalt und Geisteskrankheit - Schizophrenie - Fremd-Gefährlichkeit - Gewalt und Medienberichte - Obdachlosigkeit - Arbeitslosigkeit - Alkoholkrankheit - Medikamentenabhängigkeit - Rauschdrogenmissbrauch - psychiatrische Klinik - Anstaltspsychiatrie - stationäre Verweildauer - Mord, Todschlag und psychische Störung - Gewaltopfer: Eltern, Geschwister, Angehörige, Bekannte, Nachbarn, Fremde, Ärzte, Psychologen, Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter, Polizeibeamte, Verkäufer u.a. - Gewalt-Risikofaktoren - Persönlichkeitsstörung - antisoziale Persönlichkeit - dissoziale Persönlichkeit - hirnorganische Störung - Depression - Körperverletzung - Gewalt-Ursachen - Gewalt-Hintergründe - Gewalt-Risikofaktoren - Gewalt-Motive - Beziehungstaten - Spannungssituationen - Notwehr - äußere Gewalt-Aspekte - Erregungszustand - psychotische Impulshandlungen - Automatismen - seelische Zwangsmechanismen - psychotischer Zwang zur Gewalt - Sinnestäuschungen - Trugwahrnehmungen - Halluzinationen - paranoide Schizophrenie - Verfolgungswahn - Beeinträchtigungswahn - wahnhafte Missdeutung - Verteidigungs-Aggression - Gefühl der Fremdsteuerung - Gehörs-Sinnestäuschungen - akustische Sinnestäuschungen - akustische Halluzinationen - schizophrener Sicherheitsabstand - Angst-Aggression - überzogene Leistungsansprüche - therapeutischer Rehabilitationsdruck - soziale Desintegration - mangelnde Kompetenz im Alltag - krankhafte Überaktivität - Untergangs-Angst - Auflösungs-Panik - Aggression durch psychotische Angst - Verrücktspielen - Stupor - seelisch-körperlicher Sperrungszustand - Bewegungssperre - gespannte Regungslosigkeit - Raptus - seelisch-körperlicher Erregungszustand - antipsychotische Neuroleptika - aggressionslösende Beruhigungsmittel - angstlösende Tranquilizer - Selbsttötungsgefahr - Suizidgefahr - Selbst-Gefährlichkeit - erweiterter Suizid - Suizidgefahr und Schizophrenie - schizophrene Suizid-Methoden - Therapie-Vorbeugung - Aufklärung - u.a.

Gewalt und Aggressionen sind Themen, die die Menschen derzeit besonders bewegen. Und dies, obgleich wir trotz der Terroranschläge der letzten Zeit in einer relativ ruhigen Epoche und Region leben dürfen, verglichen mit den Kriegen, Revolutionen und wirtschaftlichen Wirren des 20. Jahrhunderts.

Die Gründe dafür sind vielschichtig und sollen hier nicht näher diskutiert werden, insbesondere die sogenannte "medien-geleitete Gewalt-Diskussion" ("nur schlechte Nachrichten sind gute Nachrichten …").

Gleichwohl ist jede Art von Aggression und Gewaltbereitschaft beunruhigend, sollte nachgeprüft, was ihre Ursachen und möglichst neutralisiert, was ihre Konsequenzen anbelangt. Dabei helfen vor allem guter Wille, der Abbau von Vorurteilen und ein ausreichender Informationsstand weiter, drei Aspekte, die allerdings nicht immer gegeben sind.

Dies vor allem dort, wo es sich um schwächere Gruppierungen unserer Gesellschaft handelt. Und dazu gehören besonders seelisch Kranke, insbesondere die sogenannten Geisteskranken. Nachfolgend deshalb eine etwas ausführlichere Darstellung zum Thema Schizophrenie und Gewalt, wobei nicht nur die sogenannte Fremd-Gefährlichkeit, sondern auch die Selbst-Gefährlichkeit, also eine drohende Selbsttötungsgefahr erörtert werden sollen.

Schizophrenie - die unbekannte Krankheit

Keine seelische Störung, wahrscheinlich kein Leiden überhaupt provoziert soviel negatives Interesse, Unsicherheit, Ratlosigkeit, Verlegenheit, Furcht, ja gereizte Reaktionen und Aggressivität wie die Schizophrenien. Dabei handelt es sich wohl um die am längsten bekannte und bisher auch am intensivsten untersuchte psychische Krankheit. Doch die meisten Menschen können damit fast nichts in Verbindung bringen, außer der gängigen, aber wenig hilfreichen Floskel vom "Spaltungs-Irresein", vielleicht ergänzt durch Sinnestäuschungen, Wahn und - etwas verlegen, aber im Grunde fast immer unausgesprochen beklagt - die befürchtete Gewalttätigkeit. Das heißt, die meisten "Gesunden" haben außer vagen Vorstellungen keine konkreten Kenntnisse über die Schizophrenien.

Doch genau das wäre wichtig, um sein Wissen nicht nur aus dritter Hand, aus Gerüchten und bisweilen verzerrenden Medienberichten zu beziehen. Und vor allem einer Krankheit gerecht zu werden, die nicht nur rund eine Million Menschen im deutschsprachigen Bereich und damit etwa 60 Millionen auf dieser Erde betrifft, sondern auch - so sonderbar sich das anhört - nach außen weitgehend unauffällig ist, d. h. überwiegend "innerlich" beeinträchtigt. Auf jeden Fall gibt die überwiegende Zahl der Betroffenen nicht jenes Negativ-Bild ab, das sich die meisten unter einer Schizophrenie vorstellen.

Dabei könnte man mit diesem Wissens-Defizit vielleicht noch leben, wenn sich im Meinungsbild der Bevölkerung mit diesen Patienten nicht unkorrigierbar eines verbinden würde: Aggressionsgefahr, Gewaltbereitschaft, vielleicht sogar Angriffe mit beklagenswerten Folgen, wenn nicht sogar Totschlag.

Das Meinungsbild in der Allgemeinbevölkerung

Mindestens ein Drittel der Bevölkerung hält psychisch Kranke für gefährlich, ein noch deutlich größerer Anteil für unberechenbar. Das geht schon aus älteren Untersuchungen hervor.

In neueren repräsentativen Erhebungen zeigte sich, dass 22 % der Befragten psychisch Kranke generell für "gefährlich", 34 % für "aggressiv", 50 % für "unbeherrscht" und 56 % für "unberechenbar" hielten.

Nach den Attentaten auf die Politiker Lafontaine und Schäuble (Frühjahr bzw. Herbst 1990) erhöhte sich dieser Anteil nochmals um jeweils etwa 10 %.

Nach Jäckel u. Wieser, 1970, Faust 1981, Angermeyer u. Siara 1994 u.a.

Einstellung der Medien

Anhand einer Analyse sämtlicher Artikel der wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitungen und Magazine im Jahre 1995 ergaben sich vor allem drei Bedeutungszusammenhänge: Schizophrene als unberechenbare Gewalttäter, Schizophrene als verschrobene Künstler und "Schizophrenie" als Metapher ohne Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen (gängige Redewendung: "Das ist doch schizophren!").

Nach Hoffmann-Richter, 2000

Zwar wird das Thema Gewalt und seelische Störung unter "gebildeten Menschen, die sich um eine gewisse Objektivität bemühen" nur ungern und damit selten erörtert, handelt es sich doch letztlich um kranke Mitbürger. Doch die immer wieder in den Medien und vielleicht sogar im Bekanntenkreis auftauchenden Berichte Gerüchte und Meinungen beunruhigen - mit Recht, das muss erst einmal zugestanden werden.

So sollen auch die nachfolgenden Ausführungen nichts beschönigen, sondern es beginnt mit einem harten, ja schockierenden Zwischentitel bzw. einer Frage, die aus dem Leben gegriffen ist:

Gibt es den tobenden Geisteskranken?

Natürlich sollte man dieses Kapitel neutraler überschreiben, beispielsweise mit "Aggressions- und Gewaltbereitschaft - Vorurteile und Realität". Das klingt ausgewogen und lässt trotzdem Raum, auf die bekannten Probleme einzugehen. Doch wenn man die wahren Ängste eines Großteils der Bevölkerung ungeschminkt wiedergeben will, dann kommt man an dieser provokativen Frage nicht vorbei: Gibt es den tobenden Geisteskranken? Und gemeint sind damit überwiegend schizophren Erkrankte.

Dazu muss man wissen, dass diese Frage in letzter Zeit vermehrt auch die Fachleute bewegt, insbesondere die Ärzte, Psychologen, Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter, Juristen und andere Berufsgruppen mit entsprechenden Aufgaben. Und das mit durchaus neueren Erkenntnissen. Was heißt das?

Zum Thema psychische Krankheit und Gewalt (siehe auch das entsprechende Internet-Kapitel aus dieser Serie) stehen sich im Wesentlichen zwei Meinungsbilder gegenüber:

Was denkt man in der Allgemeinheit?

In der Allgemeinheit einschließlich der sogenannten intellektuellen Kreise ist man nach wie vor der Ansicht, dass seelisch Kranke Im Allgemeinen und Geisteskranke im Speziellen (in Laienkreisen eine Art verschärfender Begriff, was das seelische Krankheitsbild anbelangt) eine besondere Bedrohung darstellen.

Dies ist nachvollziehbar. Wer selber über keine eigenen Erfahrungen aus dem näheren und weiteren Umfeld verfügt (was nebenbei für seelisch Kranke nicht immer nur positive Auswirkungen hat), bezieht seine Informationen und damit Ängste aus den Medien. Und diese berichten selten über die erfolgreiche Rehabilitation und Integration von "Geisteskranken" (was kaum interessiert), dafür aber grundsätzlich und leider noch immer in bestimmten Blättern bzw. Zeitschriften sensationsgeleitet über entsprechende Gewalttaten. Diese sind zwar im Vergleich zur "normalen Kriminalität" eher selten, bleiben aber als Horror-Bild üblicherweise stärker haften als alles andere.

Dazu kommen die Entweichungen aus den forensischen Kliniken oder Abteilungen (die die rechtskräftig verurteilten psychisch Kranken betreuen), die zwar zumeist zu keinen (ernsteren) Folgen führen, durch die Fahndungsaufrufe und -berichte aber ebenfalls nachvollziehbare Ängste wecken. Meist handelt es sich ja in der Tat um Kranke mit durchaus beunruhigender Vorgeschichte.

Kurz: Die Bevölkerung ist unverändert irritiert und man kann ihr das auch nicht verdenken.

Auch in der Fachwelt wird heute differenzierter unterschieden

Dagegen scheint bzw. schien sich die Fachwelt ebenso sicher zu sein: Psychisch Kranke sind nicht häufiger gewalttätig als "medizinisch Gesunde". Schließlich war das das Ergebnis einer großen deutschen Untersuchung aus den 70er Jahren, die sehr detailliert, fundiert und für alle in der Psychiatrie Tätigen wegweisend war.

Allerdings wurden schon damals im Hinblick auf Psychose-Kranke gewisse Einschränkungen gemacht. Diese haben sich durch die Studien zur Gewalttätigkeit psychisch Kranker in den letzten Jahren verstärkt. So sind berechtigte Zweifel aufgekommen, ob man das alles heute noch so einfach übernehmen kann. Offensichtlich ist eine differenziertere Sichtweise nötig.

Zum einen sind seit damals 30 Jahre vergangen. In diese Zeit hat sich nicht nur in der Bevölkerungsstruktur, sondern auch in psychosozialer Hinsicht einiges gewandelt:

  • Zunahme von Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Mangel an sozialer Unterstützung, nicht zuletzt bei psychisch Kranken.
  • Zunahme und z. T. bedrohliche Ausbreitung des Alkohol-, Medikamenten- und Rauschdrogenmissbrauchs; und dies nicht zuletzt als Ausdruck und Folge unzureichender Nachsorge und mangelnder sozialer Unterstützung von seelisch Kranken, die irgendwann ja aus der psychiatrischen Klinik entlassen werden sollten.
  • Zunahme der Gewalttätigkeit generell mit z. T. unzureichend ausgestatteten und damit gelegentlich hilflos wirkenden Behörden und Ordnungsorganen.

Zum anderen hat sich auch auf fachpsychiatrischer Ebene manches geändert, z. B. die gewollte und durchaus sinnvolle, aber nur wenn mit Augenmaß praktizierte Umorientierung von der "Anstaltspsychiatrie" zur gemeindenahen und verstärkt ambulanten Versorgung. Aber auch die drastische Verkürzung der Verweildauer in einer psychiatrischen Klinik oder Abteilung (mitunter sogar aus Kostengründen). Ferner die Stärkung der Rechte jener Kranker, die die Behandlung verweigern (und das durchaus nicht immer zu ihrem Vorteil).

Und was die besagte ältere Studie anbelangt, die (fast) alle psychisch Kranken als nicht häufiger gewalttätig sieht als mutmaßlich Gesunde, so bezog sie sich auf Gewalttaten im engeren Sinne, also auf Mord und Totschlag bzw. versuchte Tötungsdelikte und ließ beispielsweise gefährliche Bedrohung, leichtere Verletzungen und andere Aggressionshandlungen in der Regel unberücksichtigt.

Vor allem blieb eines weitgehend ausgeklammert: die Gewalt von psychisch kranken Menschen innerhalb einer Klinik im Rahmen ihrer stationären Behandlung. Und die Gewalt innerhalb einer Familie oder Angehörigengruppe.

Diese Untersuchungen werden heute nachgeholt - und verändern das Bild nicht unerheblich.

Psychische Krankheit und Gewalt - neuere Erkenntnisse

Über die Häufigkeit von Gewalttaten psychisch Erkrankter gibt es trotz zahlreicher Studien keine einheitliche Meinung. Je nach Untersuchung bzw. erfasstem Kollektiv gibt es aber durchaus beunruhigende Zahlen, die von einer Erhöhung aggressiver Handlungen in Form von tätlichen Angriffen und Bedrohungen um das Mehrfache gegenüber der Durchschnittsbevölkerung ausgehen.

Das sind aber meist sogenannte ausgewählte Gruppen, die in irgendeiner Weise auffällig und damit erfassbar wurden. Dazu zählen vor allem Auseinandersetzungen mit der Polizei, z. B. nach sozial auffälligem Verhalten unter Alkoholeinfluss, bei Ladendiebstahl oder -einbruch und sonstigen Delikten, besonders aber in Verbindung mit Alkoholkrankheit oder Rauschdrogenabhängigkeit. Letztere sind nebenbei die bedeutsamsten Risikofaktoren für aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten, und zwar mit und ohne zusätzliche psychische Krankheit.

Außerdem ist die Frage "hohe, mittlere oder niedrige Gewalttaten-Rate" auch ein Problem des nationalen Aggressivitäts-Niveaus. So sind aggressive Handlungen und Gewalttaten psychisch kranker Menschen in jenen Ländern deutlich erhöht, in denen die allgemeine Bereitschaft zur Gewalt niedriger ist (z. B. in Skandinavien). In Gesellschaften mit größerer allgemeiner Gewaltbereitschaft hingegen relativiert sich das (z. B. in den USA).

Bei der Frage: Welche psychiatrischen Krankheitsbilder sind besonders beteiligt, ergibt sich nach neuen Untersuchungen folgende Reihenfolge:

  • An erster Stelle stehen Menschen mit Alkohol-, Rauschdrogen- und Medikamentenmissbrauch bzw. -abhängigkeit sowie mit einer Persönlichkeitsstörung (vor allem die schon danach benannten antisozialen bzw. dissozialen Persönlichkeitsstörungen).
  • Im Weiteren gliedern sich in diese Gruppe die Schizophrenie-Erkrankten ein, die ebenfalls häufiger betroffen sind als die Durchschnittsbevölkerung (siehe unten). Wird ein schizophren Erkrankter zusätzlich zum Alkoholiker oder Rauschgiftabhängigen, was leider nicht so selten ist (z. B. verzweifelte Selbst-Behandlungsversuche mit verheerenden Folgen), dann kann sich das Gewalt-Potential noch erheblich verdichten.
  • Sehr unterschiedlich werden dagegen die Gewalttaten hirnorganisch Erkrankter und geistig Behinderter eingestuft. Selbst Depressive, denen man so etwas kaum zutrauen würde, sind durch den sogenannten erweiterten Suizid (Selbsttötung mit Partner, vor allem aber mit Kind oder gar Kindern) nicht ohne Risiko.

Wer sind die Opfer?

Opfer von Bedrohungen, tätlichen Angriffen und Körperverletzungen sind besonders jene Personen, die den Kranken am nächsten stehen:

  • Das sind insbesondere Mütter (die bei schizophren Erkrankten nicht selten in ein schweres und vor allem dauerhaft belastendes Los verstrickt sind - siehe unten), ferner Geschwister, Väter und andere Angehörige in den eigenen vier Wänden.
  • In der Klinik sind es meist die Therapeutinnen und Therapeuten jeglicher Disziplin. Interessanterweise tauchen aber bisher Ärzte und Psychologen kaum in der Statistik auf, weil sie solche "Vorkommnisse" nur selten zu melden pflegen (Grund: Therapie-Misserfolg und schamhafte Zurückhaltung!).
  • Im öffentlichen Leben sind es jene Personen, die mit auffälligem Verhalten nicht zuletzt beruflich konfrontiert werden wie Polizeibeamte, andere Beauftragte der Ordnungsbehörden, aber auch Verkäufer, Angehörige von Verkehrsbetrieben usw.

Ursachen und Risikofaktoren der Gewaltbereitschaft

Über die Ursachen, Hintergründe und Risikofaktoren ist zwar inzwischen vieles zusammengetragen worden, doch bleibt jede Gewalttat letztlich ein individuelles Phänomen. Einige Faktoren finden sich allerdings immer wieder, nämlich die bereits erwähnten Suchtkrankheiten, ferner soziale Entwurzelung, mangelhafte Therapie- und Nachsorge-Möglichkeiten usw.

Andererseits muss man sich aber immer wieder folgendes vor Augen halten, um das Ganze besser zu verstehen:

Seelisch Kranke haben selten die gleichen Gewalt-Motive wie nicht psychisch gestörte Täter, bei denen z. B. Bereicherungs- und sexuelle Delikte dominieren. Bei den Patienten sind es vor allem Beziehungstaten besonderer Art und das oft in unerträglichen Spannungssituationen. Betroffen sind besonders jene Menschen, die ihnen nahe stehen oder sie betreuen und deshalb häufig in einen verhängnisvollen Teufelskreis geraten.

Im Grunde handelt es sich hier eher um Notwehrmaßnahmen in (subjektiv erlebter) höchster Bedrohung als um aggressive Absichten im eigentlichen Sinne. Das kann dann aber als Opfer auch einmal eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens treffen, wenn sie in ein entsprechendes Wahnsystem einbezogen wurde, wie so manches tragische Beispiel belegt.

Auf jeden Fall sind Aggressivität und Gewaltbereitschaft im Rahmen einer psychischen Erkrankung ein Symptom, ein Krankheitszeichen, und keine nüchtern kalkulierte Strategie aus böser Absicht. Bei vielen Patienten kündigt sich das meist lange vorher an, auch wenn die eigentliche Gewalttat bisweilen abrupt über ihr Opfer hereinbricht.

Deshalb muss man lernen die ersten Krankheitszeichen zu erkennen, richtig zu deuten und rechtzeitig den zuständigen Stellen, insbesondere einem Arzt mitzuteilen. Und diese müssen dann allerdings auch Zeit haben den Angehörigen und später dem Kranken zuzuhören, sich ein Urteil zu bilden, gezielte Maßnahmen einzuleiten - und konsequent zu verfolgen.

Damit ließ sich die unselige Entwicklung der letzten Jahre eindämmen, die lautet: Zunahme gewaltbereiter psychisch Kranker èvermehrt Bedrohungen, aggressive Durchbrüche oder gar spektakuläre Gewalttaten è Unruhe in der Allgemeinheit è verstärkte restriktive Maßnahmen der zuständigen Stellen als Notlösung bei aber zu wenig Therapie und vor allem Nachsorge è damit Rückfallgefahr und Teufelskreis.

Aggression bei schizophren Erkrankten

Damit ist dieses Kapitel bereits recht lang geworden, bevor das eigentliche Thema überhaupt gestreift wurde: die Gewalttaten schizophren Erkrankter. Doch dies geschah nicht ohne Grund, gehört doch die Gefährlichkeit dieser Patienten zu den am häufigsten angeführten Charakteristika, was natürlich folgenschwere Konsequenzen in der Öffentlichkeit nach sich zieht.

Was lässt sich also dazu sagen, insbesondere zu der schon erwähnten bangen Frage: Gibt es den tobenden Schizophrenen?

Die Antwort lautet: selbstverständlich. Das ist zwar eher selten, aber nicht von der Hand zu weisen und entspricht im Wesentlichen dem beunruhigenden Erscheinungsbild, das man sich in seinen Befürchtungen als Laie vorstellt:

Drohende Mimik und Körperhaltung, unbändiger Rededrang, ja Schreien, Heulen, Schimpfen, Gestikulieren usw. Ferner stürmische Bewegungsunruhe, Zerreißen der Kleidung und der Bettwäsche, wildes Um-sich-Schlagen, Zertrümmern aller erreichbarer Gegenstände, blindwütige Angriffe auf die Umgebung mit Anspucken, Kratzen, Beißen, Stoßen, Ausreißen der Haare usw.

Gelegentlich kommt es auch zu Entblößungen, ggf. ungehemmter Onanie vor anderen, zu Stuhlgang und Urinieren mitten auf den Fußboden, zu Selbstbeschmutzung mit Stuhl und Urin, zum Beschmieren von Bett, Bettwäsche, Wänden, Fenstern, Türen u.a. Ein unschönes Szenarium.

Wer das in Frage stellt, kennt sich entweder nicht aus oder will es nicht wahrhaben bzw. will beschönigen oder verbergen - nebenbei vergeblich. Das aber ist auch nicht der Sinn der Aufklärung, die ja nicht durch Wegsehen, sondern durch Verständnis die notwendige Toleranz und Hilfe fördern soll.

Solche Eigenschaften pflegen aber besonders dann schwer zu fallen, wenn es sich um einen Erregungszustand, um eine Art aggressive Explosion handelt. So etwas ist aber selten und betrifft meist nur die schwersten Erkrankungsfälle. Die Opfer sind dann vor allem (wenn auch oft "nur" kurzfristig) die nächsten Angehörigen und später besonders die Schwestern, Pfleger und Ärzte in den psychiatrischen Kliniken und Abteilungen.

Dort ergeben dann aber auch entsprechende Untersuchungen, dass rund drei Viertel aller männlichen und mehr als die Hälfte aller weiblichen schizophren Erkrankten, die klinisch behandelt werden mussten, durchaus zu aggressivem Verhalten neigen können: Männer ausgeprägter und folgenschwerer, besonders bei langen Krankheitsverläufen, mit ständiger Wiederaufnahme und nicht zuletzt durch Alkoholmissbrauch und Rauschdrogenkonsum gebahnt. Außerdem nimmt im Gegensatz zu "seelisch gesunden Kriminellen" das erhöhte Gewalttatenrisiko mit zunehmendem Alter bei Schizophrenen nicht ab.

Die spektakulären Ereignisse sind aber gar nicht das größte Problem, so sonderbar sich das anhört. Zahlenmäßig viel häufiger und vor allem inhaltlich mindestens so belastend ist jene Aggressivität, die sich in ständiger Bedrohung oder Bedrängung äußert bzw. sich in vielerlei Hinsicht nicht direkt, sondern "atmosphärisch" auswirkt.

Das trifft dann vor allem die Angehörigen, insbesondere die nächsten Verwandten wie Mutter, Vater, Geschwister, aber auch sonstige Bekannte, Freunde, Nachbarn usw. So etwas kann Familien, Wohngemeinschaften, ja ganze Wohnviertel belasten. Man glaubt nicht, wie oft so etwas vorkommen kann, ohne dass darüber groß gesprochen wird.

In den Medien geht es meist nur um spektakuläre Taten. Das eigentliche Problem aber sind die Aggressionen, die verschämt oder verzweifelt "unter der Decke gehalten werden". Bildhaft gesprochen: ein ständiger Schwelbrand und nicht der Feuerstoß, der rasch erkannt und gelöscht werden kann.

Hier wäre es also sinnvoller, sich an seinen Hausarzt zu wenden, der seinerseits Kontakt aufnimmt zu einem Psychiater oder Nervenarzt oder direkt mit der Klinik. Und man sollte sich beraten, was für juristische Möglichkeiten zur Verfügung stehen - "und zwar bevor man selber seelisch zugrunde zu gehen droht" (Zitat).

Dabei drängt sich immer wieder die gleiche Frage auf, nämlich:

Hat der Schizophrene keinen Einfluss auf seine Aggressionen?

Geschieht eine grauenhafte Tat von einem offensichtlich "Gesunden", ist man zwar allseits empört, resigniert aber bald in Richtung: "So sind halt die Menschen".

Geschieht dasselbe durch einen Geisteskranken, insbesondere Schizophrenen, ist es schon schwieriger, seine Gefühle zu ordnen. Einerseits ist er offensichtlich "nicht Herr seiner Sinne", andererseits können die Wogen der Empörung noch höher schlagen als sonst. Auf jeden Fall "sollte man so etwas nicht frei herumlaufen lassen", wie das mehr oder weniger verhalten ausgedrückt wird.

Dabei sind die meisten Menschen durchaus bereit, das Problem differenzierter zu sehen. Aber einfach wird es einem auch nicht gemacht. Zwar dürfte die Primitivformel gegen die Psychiatrie und ihre Institutionen: "Gesunde sperren sie ein, gefährliche Irre lassen sie laufen", so schlicht nur noch selten öffentlich formuliert werden, was aber nicht heißt, dass man im Innersten doch so seine Zweifel hat.

Vor allem sollte man aber den Unterschied zwischen einem "gesunden Gewalttäter" und einem Psychose-Kranken kennen:

Der eine geht nüchtern kalkulierend vor, gezielt und vielleicht sogar skrupellos in der Auswahl seiner Methoden und wägt zumindest bis zu einem gewissen Grad Einsatz und Folgen ab.

Der andere ist gar nicht der Täter, sondern das Opfer seiner psychotischen Impulshandlungen, also das fast willenlose Werkzeug seiner Krankheit. Deshalb zeigen auch viele dieser schizophrenen Erregungszustände einen geradezu mechanischen Ablauf, der auf keine oder nur wenig innere Beteiligung hinweist, zumindest in der Mehrzahl der Fälle. Das psychotische Gewaltgeschehen ist nicht Ausdruck "normaler" innerseelischer Vorgänge und schon gar nicht bewusster bösartiger Neigungen, sondern läuft mehr oder weniger automatisch ab. Man spricht deshalb auch von "Automatismen", selbst im höchsten Zustand der Erregung.

Die Betroffenen wirken wie unter fremdem Zwang, gegen den sie sich anfangs vergeblich zu wehren versuchen - bzw. am Schluss eben nicht mehr wehren können. So sind sie auch nicht routiniert in Auswahl und Einsatz ihrer aggressiven Methoden und schon gar nicht raffiniert im Verwischen der Spuren nach der Tat. Später sind sie oftmals selber schockiert, bedauern den angerichteten Schaden und versprechen Besserung - ohne sich vielleicht auf Dauer, besonders ohne konsequente Therapie daran halten zu können.

Das alles beweist die krankhafte Grundlage, vor allem wenn es sich um solche automatisch erscheinenden Impulshandlungen mit Erregungszuständen und ggf. Gewalttaten handelt. Hier wird der "psychotische Zwang zur Gewalt besonders deutlich, hier sieht man besonders drastisch, wie das Opfer geradezu auf "aggressiven bis feindseligen Schienen läuft" - und davon ohne fremde Hilfe bisweilen kaum herunterkommt.

Nicht viel anders aber ist es bei sich langsam entwickelnder Gewaltbereitschaft, z. B. durch wahnhafte Zustände, Sinnestäuschungen u.a., nur baut sich hier eben langsam ein Gewalt-Potential auf, bis zum "überraschenden" Durchbruch.

Welche Aspekte drohender Gewalt spielen bei einer schizophrenen Erkrankung eine Rolle?

Schizophrene Psychosen zeigen also ein in der Tat statistisch erhöhtes Gewalttaten-Risiko. Dies muss vor allem bei der Untergruppe der paranoiden (wahnhaften) Schizophrenie beachtet werden, insbesondere mit Verfolgungswahn. Hier sind nicht nur verbale, sondern auch tätliche Angriffe als Verteidigung oder aus Rache möglich. Noch gefürchteter sind katatone Erregungszustände mit z. T. erheblichem, vor allem kurzfristig durchschlagenden Gewalt-Potential (siehe später: Stupor, Raptus und Gewalt).

Mit welchen Aggressions-Motiven ist nun bei schizophrenen Erkrankten zu rechnen (zusätzlich zu den allgemeinen Beweggründen)?

  • Verfolgungs- und Beeinträchtigungswahn: Besonders problematisch, wenn Angehörige, Therapeuten, Fremde u.a. in ein Wahnsystem einbezogen werden, d. h. Aggression aus subjektiv erlebter akuter oder chronischer Bedrohung. Das ist zwar eher selten, dafür aber in der Regel schwer vorhersehbar und potentiell durchaus gefährlich, da es sich in diesem Falle um geplante (glücklicherweise aber auch meist zuvor angekündigte) Aggressionshandlungen handelt (seelisch Kranke gehen nicht heimtückisch vor wie gesunde Gewalttäter).
  • Wahnhafte Missdeutung der Umgebung: Hier handelt es sich z. B. um eine Verkennung der Umgebung, ggf. mit Sinnestäuschungen oder illusionären Verkennungen (z. B. Tapetenmuster als Fratze), die in Angst und Panik treiben, was dann zu einer Art Verteidigungs-Aggression führen kann.
  • Gefühl der Fremdsteuerung im Handeln, Denken und Fühlen.
  • Reaktion auf akustische Halluzinationen (Gehörs-Sinnestäuschungen): Stimmen, die sich einmischen, beschimpfen, befehlen, aufhetzen usw. ("tu's!"). Meist plötzlich, mitunter schwer abzublocken, gesamthaft jedoch selten.
  • Reaktion auf die Nähe anderer Menschen: Viele schizophren Erkrankte brauchen einen größeren Schutz- oder Sicherheitsabstand als die meisten Gesunden. Aber auch sonst werden von manchen Schizophrenen ganz normale, unauffällige Mitbürger als "Störenfriede", als lästig, einengend oder gar bedrängend bis bedrohlich empfunden. Die Folge ist wieder eine Art Angst-Aggression.
  • Verlust der sozialen Distanz: Nicht wenige Schizophrene sind entweder völlig zurückgezogen oder - das andere Extrem - krankhaft distanzlos gegenüber anderen Menschen. Das löst entsprechende Reaktionen der Umwelt aus - und wiederum beim Patienten selber Aggressionen, ein Teufelskreis, der sich bedenklich hochschaukeln kann.
  • Überforderung durch überzogene Leistungs- und Beziehungsansprüche der Umgebung: Typisch für manche betroffene Familien sind die ständigen Aufforderungen an den schizophren Erkrankten, nicht herumzuliegen, auf Hygiene zu achten, endlich etwas zu unternehmen usw. Das führt zu Auseinandersetzungen, zu allgemeiner Reizbarkeit und schließlich aggressiven Reaktionen. Ähnliches droht sogar im fortgeschrittenen Stadium einer fachärztlichen Klinikbehandlung, wenn die Therapeuten langsam Erfolg sehen wollen (Fachausdruck: Rehabilitationsdruck).
  • Zunehmende soziale Desintegration: Darunter versteht man den krankheitsbedingten Verlust zwischenmenschlicher, beruflicher, gesellschaftlicher und sonstiger Fähigkeiten. (Fachbegriff: soziale Kompetenz im Alltag. Oder auf Deutsch: auf was muss ich achten, was kann ich mir erlauben oder herausnehmen, wo sollte ich erfahrungsgemäß zurückhaltender sein u.a.). Wer diese Regeln nicht kennt und respektiert, bekommt mit seinem Umfeld Probleme. Das gilt natürlich auch für eine krankhaft bedingte Unfähigkeit, besonders, wenn die Umgebung die eigentlichen Hintergründe nicht kennt.
  • Krankhafte Überaktivität: Dabei geht es nicht um die Aktivität im gesunden Sinne, sondern um den verzweifelten Versuch, bestimmte schizophrene Symptome bzw. Krankheitsfolgen wie "Untergangs-Angst", "Panik vor innerer und äußerer Auflösung" u.a. durch eine Art überdrehte Aktivität zu überspielen. Das ist übrigens ein wichtiges Aggressions-Motiv, das viel zu wenig beachtet wird: Aggression durch psychotische Angst.
  • "Verrücktspielen": Hier kommt es zu aggressiven Durchbrüchen aus Rache, Trotz, aber auch Scham, Verzweiflung u.a.

Natürlich muss das nicht in jedem Fall so schematisch angelegt sein. Dafür sind Zahl und Intensität möglicher Einflüsse zu unterschiedlich: Persönlichkeitsstruktur und Erziehung, Einfluss der Umgebung, vor allem aber Schweregrad der Psychose und nicht zuletzt die Enthemmung durch Suchtmittel wie Alkohol, Rauschdrogen usw.

Vor allem lassen sich zumindest beim Inhalt der aggressiven Impulse gewisse Berührungspunkte zum eigenen Lebensschicksal vermuten. Da kann man - sofern man sich später die Mühe macht, geduldig darauf einzugehen -, auf so manche Kümmernisse, Sorgen, Benachteiligungen, Kränkungen, Frustrationen, Demütigungen, Überforderungen usw. stoßen.

Nicht wenige, für den Außenstehenden unverständliche Handlungen haben also einen nachvollziehbaren Sinngehalt. Doch das hat nichts mit den kalt abgewogenen und brutal durchgezogenen Gewalttaten "gesunder" Krimineller zu tun. Da liegen Welten dazwischen.

Und hier liegt auch der Schlüssel für rechtzeitiges Verstehen und damit Korrektur: Aggressivität und Gewaltbereitschaft schizophren Erkrankter mögen besonders unverständlich, abrupt und vielleicht sogar brutal erscheinen. Sie haben jedoch neben der biologisch-krankhaften Grundlage immer eine psychosoziale Ursache, meist zwischenmenschlicher Natur. Die gilt es zu erkennen und auch später einzukalkulieren, zu beachten, zu respektieren, ggf. zu korrigieren oder zu mildern gilt. Das ist nicht leicht, besonders für die Angehörigen. Es zahlt sich aber langfristig aus.

Stupor und Gewalt

In diesem Zusammenhang soll noch kurz auf das Gegenstück eines Erregungszustandes, den Stupor oder seelisch-körperlichen Sperrungszustand eingegangen werden. Das ist eine Bewegungs-, ja Regungslosigkeit ohne Reaktion auf äußere Reize, bei jedoch klarem Bewusstsein. Was hat das mit dem Kapitel Aggressionen zu tun?

Ein solch eigenartiger Zustand der gespannten Regungslosigkeit wirkt zwar ungewöhnlich, aber erst einmal nicht gefährlich. Doch das kann täuschen. Die seelisch-körperliche Sperrung kann nämlich plötzlich in einen sogenannten Raptus, einen Erregungszustand umschlagen. Und das ist dann noch überraschender, als wenn sich die Aggressivität zuvor ankündigt oder hochschaukelt.

Früher waren solche Zustände häufiger und ausgeprägter und vor allem gefährlicher. Heute sieht man das nur noch selten, am ehesten in angedeutetem Zustand. Bei einem extremen Stupor spricht, isst und trinkt der Patient nichts mehr, so dass er ggf. gefüttert oder durch die Sonde ernährt werden muss. Gelegentlich lässt er auch unter sich.

Dabei kann man noch einen sogenannten schlaffen oder passiven Stupor, also ein völliges Fehlen jeglichen Bewegungsantriebs und einen gespannten oder gespannt-negativistischen Stupor unterscheiden, also eine aktive Sperrung aller Bewegungsmuster, ggf. einschließlich des Denkens.

Vor allem der gespannte Stupor aber kann durch plötzliche selbst- und fremdgefährliche Impulshandlungen durchbrochen werden. Eine solche Bewegungssperre ist also keine pflegeleichte oder bequeme Reaktion und vor allem nicht ohne Risiko. Hier sollte man umgehend medikamentös eingreifen (meist als Kombination aus einem hochpotenten Neuroleptikum gegen den psychotischen Zustand sowie einem Beruhigungsmittel zur gezielten Angstlösung). Denn ein solcher Stupor macht natürlich nicht nur der Umgebung, sondern auch dem Patienten selber Angst und leitet damit einen Teufelskreis ein.

Die Gewalttätigkeit schizophren Erkrankter geht allerdings nur extrem selten auf einen Raptus zurück, d.h. völlig unvorhersehbar und vor allem so gut wie nie in einem "heimtückischen Gewaltdurchbruch".

Anhang: Selbsttötungsgefahr und Schizophrenie

Zuletzt soll auf das weitgehend unbekannte, aber folgenschwere Phänomen eingegangen werden, dass Fremd-Aggressivität und Selbst-Aggressivität nahe beieinander liegen können. Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zum Thema: Schizophrenie und Selbsttötungsgefahr.

Viel ist über die mögliche Aggressivität Schizophrener geredet und geschrieben, wenig aber über ihre Selbst-Aggressivität, also die Gefahr, Hand an sich zu legen. Dabei ist sie extrem hoch und eine der größten Belastungen dieses Leidens, und zwar nicht nur für die Betroffenen, auch für Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen und nicht zuletzt alle Therapeuten, seien es Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Schwestern, Pfleger usw.

Etwa jeder zehnte schizophren Erkrankte stirbt von eigener Hand, sagt man. Die Zahl der Versuche soll doppelt bis dreimal so hoch sein, wobei die Dunkelziffer eine exakte Beurteilung nicht zulässt (vor allem bei jenen Patienten, die nicht in klinischer Behandlung stehen). Männer trifft es mehr als Frauen, d. h. konkret: Bei Männern häufen sich die vollendeten Selbsttötungshandlungen, bei Frauen die Versuche. Dabei ist aber jeder Versuch ein Warnsignal, denn meist bleibt es nicht bei einem und irgendwann gelingt es tatsächlich.

Und was besonders erschüttert: Jüngere sind öfter betroffen als Ältere. Und noch unfassbarer: Am meisten pflegen jene Patienten in Suizidgefahr zu geraten, die besonders gut angepasst und halbwegs erfolgreich ihre Krankheit zu bewältigen scheinen. Der Grund ist einfach: Gerade diese Betroffenen erkennen die zumindest theoretisch drohenden Langzeit-Auswirkungen ihres Leidens auf Lebenssituation, Lebensqualität und vor allem Zukunft besonders realistisch - und treffen am ehesten diese folgenschwere Entscheidung.

In der Tat haben viele eine schwere und lange Leidensgeschichte hinter sich, selbst wenn sie noch nicht so alt geworden sind (die schizophrene Erkrankung kann schon in jungen Jahren beginnen), charakterisiert von Rückfällen, leidlicher Erholung, erneuten Einbrüchen, ggf. mit mehreren Klinikaufenthalten usw. Einige Betroffene gehen sogar recht bald nach Ausbruch ihres Leidens in den Tod, oftmals innerhalb der ersten zehn Krankheitsjahre.

Häufig erfolgt der Suizid in einer weniger ausgeprägten psychotischen Phase oder unmittelbar danach - und erscheint damit besonders unverständlich. Auch diese Erklärung ist relativ einfach: Erst wenn der mittlerweile chronisch krank werdende Schizophrene in einer weniger beeinträchtigenden oder nicht-psychotischen Phase die scheinbare Aussichtslosigkeit seiner Situation erkennt oder zumindest ahnt, sieht er nur noch im freiwilligen Tod eine Lösung oder Erlösung.

In der Klinik überwiegen bei den Suizidopfern schizophren Erkrankte sogar mit großem Abstand (etwa die Hälfte aller Betroffenen). Die bevorzugten Methoden sind so genannte harte Verfahren: Erhängen, Selbst-Ertränken, vom Zug überfahren lassen, Sturz aus der Höhe u.a.

Die Suizidgefahr im Allgemeinen und die schizophren Erkrankter im Speziellen ist trotz aller wissenschaftlicher und therapeutischer Anstrengungen ein nach wie vor ungelöstes Problem. Hilfe kommt hier vor allem aus dem näheren und weiteren Umfeld der Opfer - wenn sie kommt. Und hier denke man nur an drei Sätze, die das ganze Elend charakterisieren:

Jedem Suizid - so sagt man - geht ein missglücktes oder nicht statt gehabtes Gespräch voraus. Denn: "Selbstmörder ist man lange, bevor man Selbstmord begeht." Oder noch eindrücklicher: "Selbstmord, das ist die Abwesenheit der anderen."

Krisenintervention - Therapie

Dieser Beitrag beschäftigt sich nur mit Erscheinungsformen, Ursachen, Motiven und Risikofaktoren aggressiver Durchbrüche von schizophrenen Erkrankten. Dabei wurden auch vorbeugende Verhaltensweisen und mögliche Fehlreaktionen seitens der Umgebung angesprochen.

Weitere Einzelheiten siehe die Kapitel Aggression und Gewalt bei seelischen Störungen, Schizophrenien, schizoaffektive Störungen, akute psychotische Störungen, Schizophrenie mit Negativ- oder Minus-Symptomen sowie das ausführliche Kapitel über die antipsychotisch wirkenden Neuroleptika (PDF).

Eines sei aber auf jeden Fall noch einmal betont: Schon die früheren Untersuchungen ergaben, dass die Mehrzahl der schizophrenen Gewalttäter zum Zeitpunkt der Tat nicht psychiatrisch behandelt war, fast die Hälfte überhaupt noch nie.

Umgekehrt konnten neuere Studien zeigen, dass die Häufigkeit aggressiver Verhaltensweisen in akuten Krankheitsphasen innerhalb weniger Tage zurückgeht und im weiteren Therapieverlauf nahezu vollständig verschwindet, wenn der Patient entsprechend behandelt werden konnte. Leider ist das auch heute noch bei nur relativ wenig der Betroffenen gegeben.

Das Problem sind also nicht die unzureichenden Therapiemöglichkeiten, sondern die fehlende Inanspruchnahme, Mitarbeit, Therapietreue im Allgemeinen und Einnahmezuverlässigkeit der verordneten Medikamente im Speziellen (Fachbegriff: Compliance).

Schlussfolgerung

Die in der Bevölkerung verbreitete Ansicht über eine erhöhte Neigung seelisch Kranker zu Gewalttaten generell erweist sich also als letztlich zutreffend - entgegen mancher Beteuerungen. Dies gilt insbesondere für Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung. Allerdings ist das statistische Risiko insgesamt gering. Es entspricht etwa dem von anderen Risikogruppen in der Allgemein-Bevölkerung, z. B. der Altersgruppe der jungen Männer.

Für die USA wurde errechnet, dass die Summe der Kriminalität um gerade 3 % sinken würde, sollte es gelingen schizophrene Psychosen vollständig zu verhüten bzw. zu heilen.

Doch ist die Behandlung solcher Patienten auf jeden Fall sinnvoll, ja zwingend, und nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Angehörigen und die Allgemeinheit. Und vor allem auch "kriminal-präventiv".

Umgekehrt sollte man aber auch nicht vergessen, welche Gefahren von diesen Patienten gerade nicht ausgehen: Weit weniger als die statistische Durchschnittsbevölkerung neigen sie z. B. zu sexuellen Gewalttaten oder jedweder Form der organisierten Kriminalität. Das ist zwar kein Trost oder Freibrief, sollte aber den Unterschied zwischen nüchtern kalkulierenden seelisch gesunden Kriminellen und jenen Patienten klar machen, die von einer schweren Krankheit gleichsam willentlich unterjocht werden.

Für die Anwohner in der Nähe psychiatrischer Kliniken oder entsprechender Wohnheime für psychisch Kranke bedeutet dies vor allem eines: Sie begegnen mit erheblicher Wahrscheinlichkeit nur adäquat behandelten psychisch Kranken, von denen ohnehin nur ein sehr geringes Gewalttatenrisiko ausgeht. Und wenn es doch dazu käme, wird es sich höchstwahrscheinlich nur um relativ ungefährliche und unvorbereitete körperliche Attacken handeln, die sich kaum nahezu Unbekannte und noch unwahrscheinlicher gegen deren Kinder richten, geben die Experten zu bedenken.

Die statistische Wahrscheinlichkeit, von dem gesunden 20-jährigen Sohn eines Nachbarn angegriffen zu werden, ist vermutlich größer. Die Furcht in manchen Gegenden unserer Großstädte nachts alleine unterwegs zu sein, ist insbesondere für Frauen durchaus berechtigt. Die Angst, dabei Opfer eines in einem Hauseingang lauernden psychisch Kranken zu werden, ist dagegen weniger begründet. Solche Verhaltensweisen und Angriffstaktiken gehören gerade nicht zum Verhaltensrepertoire psychisch Kranker, vor allem schizophrener Menschen (nach Steinert, 2001).

Ein Problem eigener Art ist allerdings die bereits erwähnte Kombination von Schizophrenie, Alkohol- und Rauschdrogenmissbrauch. Da beide Suchtformen vor allem zu Beginn und später auch im weiteren Verlauf oft erst einmal als verzweifelte, wenn auch völlig ungeeignete, ja schließlich katastrophale Selbst-Behandlungsversuche eingesetzt werden, um verschiedene Symptome einer bis dahin unerkannten seelischen Krankheit (z. B. Schizophrenie) zu mildern, wird eines umso deutlicher:

Nichts ist gerade hier so wichtig wie entsprechende Informationen und damit Wissen, Kenntnis und schließlich die Erkenntnis, um was es sich handeln und was man dagegen tun kann bzw. muss: Vor allem endlichen seinen Hausarzt und später einen Facharzt, also Psychiater oder Nervenarzt aufsuchen, seine Therapie-Empfehlungen übernehmen und diese auch durchhalten. Dann gehen die Risiken selbst einer mit erhöhter Aggressivität belasteten seelischen Störung auf jenes Niveau zurück, das auch die Allgemeinbevölkerung aufweist, die gesund bleiben durfte.

LITERATUR

Aggressionen, Gewalt und Tätlichkeiten gegen andere und sich selber (= Suizidgefahr) sind Themen von wachsender Bedeutung. Das schlägt sich auch in einer ständig zunehmenden Fachliteratur nieder, gefolgt von zahlreichen allgemeinverständlichen Artikeln, Büchern und Sendungen, wobei den meisten inzwischen ein gutes fachliches Niveau und eine verantwortungsbewusste Berichterstattung attestiert werden kann. Nachfolgend nur eine begrenzte Übersicht unter zumeist psychiatrischen Aspekten:

Bandura, A.: Aggression - eine sozial-lerntheoretische Analyse. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1979

Bell, K., K. Höhfeld: Aggression und seelische Krankheit. Psychosozial-Verlag, Gießen 1996

Böker, W., H. Häfner: Gewalttaten Geistesgestörter. Eine psychiatrisch-epidemiologische Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1973

Dubin, W.R., K.J. Weiss: Handbuch der Notfall-Psychiatrie. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto-Seattle 1993

Elhardt, S.: Aggression als Krankheitsfaktor. Verlag Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 1974

Faust, V., C. Scharfetter: Psychopathologie 1 - 13. Heft 6: Aggression. 13-teilige Serie, Enke-Verlag, Stuttgart 1997 bis 2000

Faust, V.: Der psychisch Kranke in unserer Gesellschaft: Was befürchtet der psychisch Kranke vom Gesunden - was weiß der Gesunde vom psychisch Kranken? Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1981

Hacker, F.: Aggression. Die zunehmende Brutalisierung unserer Welt. Econ-Verlag, Düsseldorf-Wien 1985

Hilke, R., W. Kempf (Hrsg.): Aggression. Verlag Hans Huber, Bern 1982

Hinz, S.: Gefährlichkeitsprognose bei Straftätern: Was zählt? Lang-Verlag, Frankfurt 1987

Hoffmann-Richter, U.: Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2000

Hymann, S.E.: Manual der psychiatrischen Notfälle. Enke-Verlag, Stuttgart 1988

Jäckel, M., F. Wieser: Das Bild des Geisteskranken in der Öffentlichkeit. Thieme-Verlag, Stuttgart 1970

Kernberg, O. F.: Schwere Persönlichkeitsstörungen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1988

Leygraf, N.: Psychisch kranke Straftäter. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 1988

Lempp, R.: Jugendliche Mörder. Verlag Hans Huber, Bern 1977

Michaelis, B.: Perspektiven der Theorienbildung über Aggression. Habilitationsschrift, Kiel 1976

Rasch, B.: Forensische Psychiatrie. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1986

Rupp, M.: Notfall Seele. Thieme-Verlag/Matthias-Grünewald-Verlag, Stuttgart-New York -Mainz 1996

Scharfetter, C.: Allgemeine Psychopathologie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 1996

Scharfetter, C.: Schizophrene Menschen. Beltz-Verlag, Weinheim-New York 1985

Selg, H.: Menschliche Aggressivität. Hogrefe-Verlag, Göttingen 1974

Steinert, T.: Aggression bei psychisch Kranken. Enke-Verlag 1995 (Grundlage vorliegender Ausführungen)

Steinert, T.: Aggression und Gewalt bei Schizophrenie. Waxmann-Verlag, Münster 1998 (Grundlage vorliegender Ausführungen)

Stierlin, H.: Der gewalttätige Patient. Karger-Verlag, Basel 1956

Verres, R., I. Sobez: Ärger, Aggression und soziale Kompetenz. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1980

Unter Mitarbeit von Priv.-Doz. Dr. med. Tilman Steinert

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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