ANPASSUNGSSTÖRUNGEN

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Eine kritische Übersicht

Der neuere psychiatrische Fachbegriff Anpassungsstörungen ist eine relativ häufige Diagnose und durchaus nachvollziehbar – scheinbar. Wenn man jedoch seine Geschichte als Fachbegriff und Krankheitsbild näher beleuchtet, wird man eher ratlos, beklagen die Experten. Offenbar ist er schwerer einordenbar, ja klassifizierbar, als sein ansonsten griffiger Name nahelegt. Hält er wirklich, was er verspricht, d. h. diagnostisch, differenzialdiagnostisch, aetiopathogenetisch, prognostisch, therapeutisch (wie die entscheidenden Fachbegriffe lauten)? Oder sollte man sich hier (wieder einmal) früheren Erkenntnissen bedeutender psychiatrischer Autoritäten bedienen, die dieses zweifellos vorhandene und durchaus quälende Leidensbild treffender einzuordnen wussten?

Dazu eine kurzgefasste – kritische – Übersicht.


Erwähnte Fachbegriffe:

Anpassungsstörungen – traumatische Neurose – Angstneurose - Zwangsneurose – depressive Neurose – Charakterneurose – psychogene Reaktion – Hysterie – echte Reaktion – abnorme Erlebnisreaktion – innere Konfliktreaktion – abnorme Reaktion – Persönlichkeits-Akzentuierung – abnorme Reaktion – kurze depressive Reaktion – längere depressive Reaktion – Angst und depressive Reaktion gemischt – Störungen des Sozialverhaltens – psychosoziale Belastung – Verhaltensstörung – depressive Episode – Dysthymie – Anpassungsstörungs-Disposition – Neigung zur Anpassungsstörung – Anpassungsstörungs-Vulnerabilität – seelische Verwundbarkeit für Anpassungsstörung – akute Belastungsreaktionen – posttraumatische Belastungsstörungen –Häufigkeit der Anpassungsstörung – psychiatrischer Konsiliardienst – Anpassungsstörung bei Migranten – Ko-Morbidität bei Anpassungsstörung – Persönlichkeitsstörung – Anpassungsstörung und Persönlichkeitsstörung – Anpassungsstörung und dependente Persönlichkeitsstörung – Anpassungsstörung und vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung – Anpassungsstörung und narzisstische Persönlichkeitsstörung - Anpassungsstörung und Borderline-Persönlichkeitsstörung – Anpassungsstörung durch Überforderung – Anpassungsstörung durch familiäre Konflikte – Anpassungsstörung durch berufliche Probleme – Anpassungsstörung durch schulische Probleme – Anpassungsstörung durch finanzielle Probleme - Anpassungsstörung durch körperliche Erkrankungen – Anpassungsstörung und Sucht-Leiden – Anpassungsstörung und rechtliche Probleme – biologische Erklärungsversuche – Beschwerdebild der Anpassungsstörung – Suizidversuche und Anpassungsstörung – Depressionen und Anpassungsstörung – Prognose der Anpassungsstörung – Therapie der Anpassungsstörung – multifaktorielle Genese der Anpassungsstörung – Vulnerabilitäts-Stress-Modell der Anpassungsstörung – Verbitterungs-Störung – u.a.m.

Es gibt Fachbegriffe in der Psychiatrie, die sagen dem Laien gar nichts – und auch der Arzt schlägt vorsichtshalber nach. Dasselbe gilt – sagen wir es offen – für nicht wenige psychische Krankheiten. Die historische „Seelenheilkunde“ ist auch als moderne Psychiatrie nicht transparenter geworden, klagen die Interessierten und vor allem Betroffenen.

Dann gibt es wieder Fachbegriffe, die leuchten sofort ein. Dazu gehören beispielsweise die Anpassungsstörungen. Wenn sich einer vorsätzlich, charakterlich oder gar krankheitsbedingt nicht anpassen kann, dann ist das nachvollziehbar, vor allem was die psychosozialen Konsequenzen anbelangt. Und so könnte man aufatmend meinen: Endlich einmal ein allseits verstehbarer Terminus technicus, wie dies in der Fachsprache heißt. Denn man kann sich gut vorstellen, was damit gemeint ist – scheinbar. Doch die Realität sieht anders aus, wie so oft im Bereich der Seele, insbesondere bei den ja Überforderten, Gestressten oder gar Kranken. Und so auch hier.

Nachfolgend deshalb in Ergänzung zu einem bereits vorliegenden Beitrag in dieser Serie eine kritische Übersicht zum Thema Anpassungsstörungen aus fachärztlicher Sicht, zur Diskussion gestellt durch die Drs. Markus Jäger und Karel Frasch sowie Professor Dr. Thomas Becker von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm in Günzburg in der Fachzeitschrift Psychiatrische Praxis 35 (2008) 219. Was gibt man dort zu bedenken?

Alles hat eine historische Vorgeschichte

Obwohl der Fachbegriff Anpassungsstörungen eher neu ist, zumindest auf den ersten Blick, finden sie schon in der traditionellen Psychiatrie zahlreiche Überlegungen und Konzepte für Störungen, die als Reaktion auf belastende Lebensereignisse auftreten. So wurde schon 1889 der Begriff „traumatische Neurose“ geprägt. Ein Trauma (aus dem Griechischen) ist eine Verwundung, was sowohl die Organ-Medizin als auch die Psychiatrie begrifflich verwenden (hier als seelische Verwundung).

Der Begriff der Neurose war früher in aller Munde, bezeichnete eine seelische Erkrankung mit vielfältigen psychischen, aber auch körperlichen Symptomen (wenngleich ohne organischen Befund) und fand in die wissenschaftliche und Laien-Literatur Eingang als Angstneurose, Zwangsneurose, depressive Neurose, Charakterneurose u. a.

Inzwischen – alles ist in Bewegung, auch wissenschaftlich – ist dieser Begriff von den großen, ton-angebenden internationalen Institutionen wie Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA) gestrichen – als Begriff ersatzlos, als Krankheit unter anderen Namen, d. h. definitorisch noch klassifikatorisch Einteilungsmuster natürlich fortbestehend.

Auf jeden Fall war die traumatische Neurose früher ein häufig diskutiertes und für die Betroffenen durchaus belastendes bis quälendes Phänomen (erstmals ausführlich beschrieben vom „Vater der Psychoanalyse“, nämlich Professor Dr. Sigmund Freud). Die eher rein psychiatrisch orientierten „Väter der Psychiatrie“, wie beispielsweise Professor Dr. Emil Kraepelin (dessen rund 100 Jahre altes Lehrbuch immer noch lesenswert ist), nannten so etwas eine psychogene (also rein seelisch bedingte) Reaktion, bei der auch hysterische Anteile eine Rolle spielen können.

Der berühmte Philosophie-Professor Dr. Karl Jaspers ist den meisten zwar als bedeutender Philosoph bekannt. Er war aber von Haus aus Psychologe, tätig an der berühmten Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg und Autor des wohl ersten wegweisenden Lehrbuchs der psychiatrischen Krankheitslehre, der Allgemeinen Psychopathologie (1923). Er trennte beispielsweise die für ihn seelisch ausgelösten Psychosen (Geisteskrankheiten genannt) von den echten Reaktionen ab, „deren Inhalt im wesentlichen Zusammenhang mit dem Erlebnis steht, die nicht aufgetreten wären ohne das Erlebnis, und in ihrem Verlauf von dem Erlebnis und seinen Zusammenhängen abhängig sind“ (K. Jaspers).

Der berühmte Heidelberger Professor Dr. Kurt Schneider, ebenfalls Autor eines Psychopathologie-Lehrbuchs (inzwischen in 13. Auflage noch heute erhältlich und für die US-amerikanische Psychiatrie ein wichtiger Grundstein), schuf den Begriff der „abnormen Erlebnisreaktionen“ und definierte sie als eine „sinnvoll motivierte gefühlsmäßige Antwort auf ein Erlebnis“. Deshalb wollte er sie auch nicht als krankhaft eingestuft, sondern lediglich als „abnorme Spielart seelischen Wesens“ interpretiert wissen. Dabei differenzierte er zwischen inneren Konfliktreaktionen, die an ganz bestimmte Persönlichkeiten gebunden seien und abnormen Reaktionen auf äußere Erlebnisse, welche übercharakterliche Reaktionsformen darstellten. Oder kurz: Das eine mehr von der (nicht so belastbaren bis grenzwertigen oder gar gestörten) Wesensart abhängig, das andere würde jeden von uns in die Knie zwingen.

Sein ebenfalls berühmter Kollege Professor Dr. Karl Leonhard von der Psychiatrischen Universitätsklinik Charité, Berlin, wies in dieser Hinsicht noch eindringlicher auf die hier ausschlaggebende spezifische Persönlichkeitsstruktur hin, die bis zu sogenannten Persönlichkeits-Akzentuierungen (Ausprägungen) bei der Entstehung von abnormen Reaktionen bedeutsam werden könnten.

Dann war die Zeit der „Großen der Psychiatrie“ vorbei, es dominierten die Experten-Komitees, die nicht mehr von einer einzelnen Lehr-Meinung geprägt sind, sondern eben von Kompromissen leben müssen. Das kennzeichnet sowohl die Internationale Klassifikation Psychischer Störungen – ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wie auch das Diagnostische und Statistische Manual Psychischer Störung – DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA).

Für den Westen klassifikatorisch vorgeschrieben ist die erwähnte ICD, bei der bei der 8. Überarbeitung die Bezeichnung „passagere situationsabhängige psychische Störungen“ auftauchte und in der 9. Überarbeitung erstmals der Begriff „Anpassungsstörung“. In der 10. finden sich dann schließlich auch diagnostische Leitlinien bzw. das, was die Experten „operationale Diagnosekriterien“ nennen. Was stellen die Fachleute dort zur Diskussion bzw. wird jeweils (für einen gewissen Zeitraum, nämlich ggf. bis zur nächsten Überarbeitung) als klassifikatorisch bindend erklärt?

Die Anpassungsstörung nach ICD-10

In der ICD-10 der WHO (s. o.) kommt es bei einer Anpassungsstörung durch ein belastendes Lebensereignis zu affektiven (Gemüts-)Symptomen (Krankheitszeichen) oder gar Störungen, die sich vor allem im Sozialverhalten (zwischenmenschlich) ausdrücken. Dabei werden verschiedene Gruppen unterteilt, nämlich kurze oder längere depressive Reaktionen, Angst und depressive Reaktionen gemischt und zwar vorwiegend mit Beeinträchtigung von anderen Gefühlen bzw. Störungen des Sozialverhaltens bzw. wiederum gemischt (Gefühle und Sozialverhalten) u. a. oder kurz:

Die diagnostischen Kriterien der Anpassungsstörungen lauten:

  • Identifizierbare psychosoziale Belastung von einem nicht außergewöhnlichen oder katastrophalen Ausmaß
  • Beginn der Symptome innerhalb eines Monats nach Auftreten der Belastung
  • Symptome und Verhaltensstörungen (außer Wahngedanken und Halluzinationen = Trugwahrnehmungen) wie sie bei anderen Störungen vorkommen, ohne dass jedoch die Kriterien der einzelnen Störungen erfüllt werden
  • Dauer der Symptome nicht länger als 6 Monate (bei längeren depressiven Reaktionen nicht länger als 2 Jahre) nach Ende der Belastung oder deren Folgen.

Das entscheidende Kriterium ist also die Dauer (s. o.), während die Symptome außerordentlich variabel sein können. Allerdings werden einige psychische Krankheitsbilder mit relativ konkretem Beschwerdebild genannt, die dabei ausgeschlossen werden müssen. Beispiele: depressive Episode, Dysthymie (= langfristige Verstimmungen), Panikstörung oder generalisierte Angststörung (= früher als Angstneurose bezeichnet).

Wichtig ist auch der Belastungsfaktor, er muss eindeutig sein. Dabei wird in diesem Fall auf die individuelle Disposition (Neigung) und Vulnerabilität (seelische Verwundbarkeit) hingewiesen, die naturgemäß bei jedem Menschen anders ausfallen kann.

Nun gibt es allerdings aufgrund subjektiv nicht problemlos ertragbarer Belastungen auch andere Krankheitsfolgen, und die müssen ebenfalls ausgeschlossen sein. Dazu gehören neben den akuten Belastungsreaktionen vor allem die posttraumatischen Belastungsstörungen mit einer außergewöhnlichen seelischen und körperlichen Beeinträchtigung bzw. bei einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit gar katastrophalem Ausmaß. Einzelheiten siehe die spezifischen Beiträge über die postraumatischen Belastungsstörungen in dieser Serie.

Anpassungsstörungen nach DSM-IV

Große Unterschiede zwischen ICD-10 der WHO und DSM-IV der APA gibt es natürlich nicht, schließlich handelt es sich um die gleichen Ursachen und letztlich auch Folgen. Im Gegensatz zu ICD-10 werden jedoch im DSM-IV die Anpassungsstörungen als eigenständige Diagnosegruppe aufgeführt (während die WHO sie zusammen mit den erwähnten akuten Belastungsreaktionen und posttraumatischen Belastungsstörungen führt). Auch kann das Beschwerdebild in der US-amerikanischen Version innerhalb von drei (und nicht nur einem) Monaten auftreten. Und schließlich wird hier ein deutlicher Leidensdruck mit einer bedeutsamen Beeinträchtigung des sozialen oder beruflichen Funktionsniveaus gefordert. Außerdem wird ausdrücklich auf die Abgrenzung von einer einfachen Trauer bestanden.

Die Psychiater M. Jäger, K. Frasch und Th. Becker von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm in Günzburg haben sich nun die Mühe gemacht, die bisher vorliegende Fach-Literatur zum Thema Anpassungsstörungen zu sichten und zu werten, insbesondere was die Anforderungen des Alltags in Klinik, Praxis und Ambulanz anbelangt. Dabei fanden sie bei einer solch bedeutsamen Diagnose (s. u.) relativ wenig spezifische, vor allem für den erwähnten Praxis-Alltag verwertbare Hinweise in der Welt-Literatur.

Das ist wieder mal eines der unerfreulichen Erkenntnisse in der Psychiatrie, bei der man allerdings konzidieren muss, dass dieses medizinische Fach besonders eng mit der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung verbunden ist; und die hängt nicht nur national, sondern auch epochal, d. h. was die jeweiligen Zeitströmungen und ihre Gesellschaft(en) anbelangt mit ihrem ständigen Umbruch zusammen. Dies prägt einerseits die psychosozialen Konsequenzen seiner Bürger und findet andererseits – wie erwähnt – seinen Niederschlag in den dann doch häufiger wechselnden konzeptuellen Antworten der Psychiatrie. Oder kurz: Alles ist im Fluss (wie schon der antike Philosophen-Hinweis lautet; Heraklit: panta rhei) – und damit letztlich auch die Psychiatrie.

Wie häufig sind Anpassungsstörungen?

Zur Häufigkeit der Anpassungsstörung in der Allgemeinbevölkerung gibt es nur wenige empirische (wissenschaftliche abgesicherte Erfahrungs-)Daten. Und dort, wo man sich diesem Thema zu nähern versucht, spricht man von 0,3% (ICD-10-Kriterien) bzw. 0,5% (DSM-IV-Kriterien). Das sind jedoch Schätzdaten; außerdem ist mit regionalen Schwankungen zu rechnen, besonders auf der jeweiligen nationalen Ebene (Beispiele: in den ländlichen Gebieten von Finnland etwa 1%, von Irland kein einziger Fall…).

Demgegenüber gibt es dann doch zahlreiche Untersuchungen, die über die Häufigkeit von Anpassungsstörungen in verschiedenen klinischen Populationen berichten (d. h. von stationär behandlungsbedürftigen Patienten, also einer – wenn man so will – gesundheitlichen „Negativ-Auswahl“ der Bevölkerung). Und hier wird dann schon deutlich, dass die Anpassungsstörungen im klinischen Alltag keine Rarität darstellen, so die Schlussfolgerung der Autoren. Insbesondere im psychiatrischen Konsiliardienst (also wenn ein beratender Psychiater in einer nicht-psychiatrischen Klinik zu möglichen zusätzlichen seelischen Krankheiten Stellung nimmt) sind Anpassungsstörungen offenbar häufig, und zwar zwischen 5 bis 24%. Besonders oft findet man sie in bestimmten Bevölkerungsgruppen, beispielsweise bei Migranten (ausländischen Mitbürgern).

Was die Verteilung auf die verschiedenen diagnostischen Untergruppen anbelangt, gibt es jedoch wiederum keine eindeutigen Erkenntnisse, wenigstens bisher. Am häufigsten scheinen Anpassungsstörungen mit depressiver Stimmung bzw. mit Angst und depressiver Stimmung gemischt aufzutreten.

Ko-Morbidität

Die sogenannte Ko-Morbidität, also wenn eine Krankheit zur anderen kommt, ist zwar so alt wie die Menschheit (je älter, desto mehr), wird aber erst in den letzten Jahrzehnten so richtig als Problem erkannt, vor allem in der Psychiatrie. Denn dann sind nicht nur zwei oder mehrere Leiden zu ertragen, dann kommen ja auch verschiedene Arzneimittel zum Einsatz und das heißt Arzneimittel-Wechselwirkungen, leider meist zum Schlechten (z. B. Verstärkung der Nebenwirkungen).

Wissenschaftlich gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen zum Problem: Anpassungsstörungen und weitere Krankheiten auf einmal. Dabei streut die Häufigkeit erheblich, nämlich von jedem Fünften bis mehr als zwei Drittel aller Betroffenen – je nach Studie bzw. erfasstem Patienten-Kollektiv oder spezifischen Diagnose-Kriterien.

Von besonderem Interesse ist dabei das gemeinsame Auftreten von Anpassungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen, wobei bei letzteren vor allem die sogenannten dependenten (von anderen abhängigen) und vermeidend-selbstunsicheren Persönlichkeitsstörungen die häufigsten Probleme aufwerfen. Das Gleiche gilt aber auch für narzisstische und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, was man sich gerade bei diesen Krankheitsbildern gut vorstellen kann (Einzelheiten dazu siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie).

Welche Stress-Faktoren sind von Bedeutung?

Schon der Begriff „Anpassungs-Störungen“ legt nahe, dass sich hier ein Mensch an etwas nicht anzupassen vermag, sei es seelischer, körperlicher oder psychosozialer Ursache. Besonders psychosoziale Belastungen spielen dabei eine herausragende Rolle, weshalb sie auch als so genannter aetiologischer (Ursachen-)Faktor in den diagnostischen Kriterien besonders hervorgehoben werden (was bei anderen Krankheitsbildern im „Diagnose-Katalog“ von ICD-10 der WHO und DSM-IV-TR der APA nur selten der Fall ist).

Sonderbarerweise gibt es aber über die Art der auslösenden Stressoren (wie man heute solche Belastungs-Einflüsse nennt) nur wenige wissenschaftliche Daten. Oder konkreter: Es gibt nur wenige Studien dazu; diejenigen jedoch, die sich mit diesem Thema ausführlicher befassen, weisen allerdings auf ein eindrückliches Überforderungs-Bild hin:

An erster Stelle stehen familiäre Konflikte (je nach Studie zwischen jedem vierten und vier Fünfteln aller erfassten Fälle von Anpassungsstörungen). Danach kommen berufliche bzw. schulische Probleme (mehr als jeder zehnte bis dritte Patient). Auf den ersten Blick ungewöhnlich, wenngleich den Experten nicht unbekannt, ist der Belastungs-Faktor „Umzug“ (fast jeder Fünfte, wobei eine alte Erfahrungsregel besagt: je älter, desto folgenreicher).

Im Weiteren sind es finanzielle Probleme (mehr als jeder Zehnte), körperliche Erkrankungen, Sucht-Leiden und hier vor allem Alkohol-Folgen sowie Krankheit oder Todesfälle im Bekanntenkreis (jeweils fast jeder Zehnte). Auch rechtliche Probleme führen zu Anpassungsstörungen, selten zwar, aber nicht zu unterschätzen.

Biologische Erklärungsversuche

Biologische Untersuchungen zu den Anpassungsstörungen sind bisher selten, obgleich sie bei vielen seelischen Störungen inzwischen zum Kern wissenschaftlichen Bemühens zu werden scheinen – glücklicherweise, denn das erweitert unseren Kenntnis- und damit Diagnose- und Therapie-Stand erheblich. Aber wie gesagt: Neurobiologische Modelle zu den Anpassungsstörungen sind bisher – im Gegensatz zu den meisten anderen psychischen Störungen – nur im Ansatz erkennbar.

Dagegen arbeitet man intensiv an psychologischen Konzepten (Stichwort: Stress-Response-Syndrom), wobei vor allem die posttraumatischen Belastungsstörungen Pate stehen (siehe diese).

Das Beschwerdebild der Anpassungsstörungen

Kann man Anpassungsstörungen psychopathologisch differenzieren, d. h. nach ihrem seelischen und psychosozialen Beschwerdemuster einordnen? Unterscheiden sie sich beispielsweise gezielt nutzbar von depressiven Episoden und Angststörungen? Auch hier herrscht offenbar noch Forschungsbedarf. Eines aber zeichnet sich schon jetzt ab:

Bei Patienten mit Anpassungsstörungen findet sich erwartungsgemäß eine Symptomatik, die deutlich geringer ausgeprägt ist, als beispielsweise bei den erwähnten anderen Krankheitsbildern. Auch scheinen hier weniger körperliche (treffender: psychosomatisch interpretierbare) Beschwerden zu belasten. Ansonsten gibt es nach bisherigem Erkenntnisstand keine greifbaren Unterschiede, was die psychopathologische Symptomatik anbelangt, wie es die Experten nennen.

Was übrigens noch erfreulich ist: Suizidversuche oder gar Suizide finden sich bei Anpassungsstörungen, selbst wenn sie depressiv getönt sind, deutlich seltener als bei Depressionen und sogar depressiven Dauerverstimmungen (heute Dysthymie genannt).

Wie verlaufen Anpassungsstörungen?

Auch zum Verlauf gibt es bisher leider nur wenige Hinweise aus den bisherigen Untersuchungen, beklagen die Psychiater M. Jäger, K. Frasch und Th. Becker von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm in Günzburg. Dafür gilt es vor allem ein Problem zu beachten: Das sogenannte Zeit-Kriterium legt ja bereits fest, dass man von einer Anpassungsstörung nur dann sprechen darf, wenn die Dauer von höchstens 6 Monaten bzw. 2 Jahren (je nach Klassifikation) gesichert ist. Alles andere müsste dann anders diagnostiziert werden, z. B. in Richtung Depressionen, Angststörungen, Dysthymie u. ä. Ein Leiden, das also schon definitionsgemäß zeitlich begrenzt bleibt, hat natürlich auch eine bessere Prognose, d. h. günstigere Heilungsaussichten. Hier besteht also – wissenschaftlich gesprochen – die Gefahr von Zirkelschlüssen, d. h. das eine bedingt das andere und man droht sich lediglich im Kreis zu bewegen.

Auf jeden Fall weisen Anpassungsstörungen, selbst mit depressiver Verstimmung, im Vergleich zu Patienten mit anderen depressiven Störungen, eine höhere Lebensqualität auf. Auch kommt es bei ihnen deutlich seltener zur stationären Wiederaufnahme (was beispielsweise bei episodischen Depressionen öfter hinzunehmen ist).

Eine Erkenntnis allerdings zeigt, wie schwierig es ist, von einer definitionsgemäß nur vorübergehenden Anpassungsstörung zu sprechen; gemeint ist damit die nun doch nicht seltene Änderung der Diagnose, wenn der Patient später erneut behandelt werden muss. Denn in einer entsprechend angelegten Studie kam es bei 40% jener Patienten, die bei der ersten stationären Aufnahme als Anpassungsstörung diagnostiziert wurden, schon während dieser Klinik-Behandlung zu einem Diagnose-Wechsel. Und der lag nicht nur in Richtung affektive Störung (z. B. Depression), was noch am ehesten naheliegen würde, sondern auch in Richtung Sucht-Erkrankungen.

Im weiteren 2-Jahres-Verlauf wurde dann die Hälfte des Ausgangs-Kollektivs erneut stationär aufgenommen. Diesmal bekam nur ein Fünftel der ehemaligen Patienten mit einer Anpassungsstörung erneut diese Diagnose, die überwiegende Mehrzahl eine andere (s. o.)

Wie behandelt man eine Anpassungsstörung?

Man sieht: Anpassungsstörungen sind ein griffiger Fachausdruck, aber kein eindeutig festlegbares Beschwerdebild und in puncto Aetiopathogenese (Ursache und Verlauf) relativ schwer exakt festlegbar. Je diffuser aber die Ausgangslage, desto schwieriger die Therapie, sollte sich doch möglichst konkret eingreifen können. Und so geht es auch hier:

Zur Therapie der Anpassungsstörungen gibt es bisher keine empirischen Daten, wie die Psychiater M. Jäger, K. Frasch und Th. Becker feststellen müssen. Das betrifft sowohl die medikamentöse Behandlung (vor allem mit Antidepressiva) als auch die Psychotherapie; wobei für Letzteres dann doch erfreulich günstige Ergebnisse angedeutet werden, vor allem dann, wenn es sich um ein spezifisches Therapieprogramm handelt (z. B. kognitive Verhaltenstherapie, Stress-Impfungstraining, kognitive Restrukturierung, Zeitmanagement u. a. – Einzelheiten siehe Fachliteratur).

Schlussfolgerung und Ausblick

Anpassungsstörungen sind eine interessante Krankheits-Gruppe, sicher nicht selten, aber diagnostisch, differenzialdiagnostisch und therapeutisch schwer einzuordnen. „Der Mangel an wissenschaftlichen Daten wird umso deutlicher, wenn man sich die Fülle an Studien zu anderen psychischen Erkrankungen wie beispielsweise den posttraumatischen Belastungsstörungen, den depressiven Störungen oder den Angsterkrankungen vor Augen führt“, fassen die Autoren nüchtern zusammen.

Wissenschaftlich spricht man sogar von einem „akademischen Neglekt“. (Ein Neglekt, vom Lateinischen: neglegere = vernachlässigen, aber auch übersehen u. a. bezeichnet eine neurologische Störung, bei der Körperteile oder eine ganze Körperseite nicht wahrgenommen werden, als ob sie nicht existierten.) Manche Kritiker sind auch der Meinung, die Anpassungsstörungen seien in der weltweit ton-angebenden Klassifikation der WHO und APA lediglich eine diagnostische Rest-Kategorie, wenn man sich auf konkreter definierbare Krankheitsbilder nicht einigen könne oder wolle.

In einigen Studien wird dann auch vermutet: Wenn man sich nur intensiv und lang genug mit dem Beschwerdebild, mit Ursachen, Verlauf und vor allem psychosozialen Hintergründen beschäftigt, dann kommt meist eine Depression oder Angststörung heraus. Kein Wunder, dass bei den Anpassungsstörungen dann auch die Therapie-Empfehlungen eher etwas hilflos wirken.

Wie geht es also weiter, denn die Wissenschaft bleibt nicht stehen, auch die psychiatrische nicht, vor allem wenn es sich um ein letztlich unbefriedigendes Krankheits-Konzept handelt. So empfehlen die einen, auf die Diagnose Anpassungsstörung zu verzichten und hier im Sinne eines globalen Beschwerdebildes von „unterschwelligen psychischen Störungen“ zu sprechen, die man dann den jeweiligen spezifischen Erkrankungen zuordnen könnte (also wiederum am ehesten Depression und Angststörung). So etwas würde dann als „unterschwellige Depression“ oder „unterschwellige Angststörung“ eingeordnet.

Dabei müsste man allerdings auf die bisher dann doch halbwegs nachvollziehbaren, zumindest identifizierbaren Belastungsfaktoren verzichten, die als so genanntes konstituierendes Diagnose-Kriterium für Anpassungsstörungen fungieren.

Andererseits geht man aber bereits heute und bei fast allen psychischen Erkrankungen von einer so genannten multifaktoriellen Genese (vielfältige Ursachen) im Sinne eines Vulnerabilitäts-Stress-Modells aus (Stichworte: Verwundbarkeit, Stress, mehrschichtige und schließlich die Grenze des Ertragbaren überschreitende psychosoziale Belastungsfaktoren). Dabei gibt es aber kritische Stimmen, die vor einer (ständigen?) Ausweitung des Spektrums der affektiven Störungen warnen, z. B. man subsumiert immer mehr unter dem Begriff Depressionen, bis auch hier die Übersicht verlorengeht.

Umgekehrt gibt es Empfehlungen, den Depressions-Begriff einzuengen und dafür die Anpassungsstörungen konzeptuell auszuweiten, besonders wenn nachvollziehbare Stressoren (s. o.) beteiligt sind, und zwar unabhängig vom Schweregrad des Beschwerdebildes.

Und hier geschieht etwas Erstaunliches bzw. Erfreuliches, nämlich die Rückkehr zu den alten psychiatrischen Autoritäten, die nebenbei ihre bedeutsame Position nicht umsonst erlangt haben. Schon die Professoren Karl Japers und Kurt Schneider forderten mehr Beachtung von Beschwerdebild und auslösendem Ereignis (was in den modernen Klassifikationen kaum berücksichtigt wird). Das Gleiche gilt für den (zusätzlichen) Einfluss spezifischer Persönlichkeitsstrukturen, was vor allem von Professor Karl Leonhard unterstrichen wurde und durch neue empirische Untersuchungen bei den Anpassungsstörungen auch durchaus belegbar ist (siehe die hohe Zahl von ko-morbiden Persönlichkeitsstörungen). Interessant auch das Phänomen der so genannten „Verbitterungs-Störung“, auf die vor allem heutigen Wissenschaftler hinweisen, und zwar als Ursache bestimmter Leidens-Bilder (z. B. posttraumatische Verbitterungs-Störung).

Unter diesen Aspekten könnten sich dann auch gezieltere Therapie-Empfehlungen abzeichnen. Dies vor allem deshalb, weil man heute weniger das Krankheitsbild in toto, eher bestimmte Krankheitszeichen im Auge hat, so genannte Ziel-Symptome oder Ziel-Syndrome (also mehr oder weniger zusammengehörige Symptome).

Fazit: Die Diagnose Anpassungsstörung stellt im klinischen Alltag keine Seltenheit dar. Im Gegenteil: Insbesondere bei ambulanten Patienten oder im psychiatrischen Konsiliar-Dienst wird sie häufig gesehen (und als Diagnose auch gestellt). Dabei findet sich eine hohe Ko-Morbidität, vor allem mit körperlichen Erkrankungen, aber auch anderen seelischen Störungen (z. B. Persönlichkeitsstörungen).

Familiäre Konflikte sind darüber hinaus die häufigsten auslösenden Stressoren, gefolgt von beruflichen, schulischen, finanziellen u. ä. Problemen. Die Abgrenzung zu anderen seelischen Störungen ist mitunter problematisch, was dann nicht nur die Diagnose unsicher macht (lediglich Rest-Kategorie, wenn man sich diagnostisch sonst nicht festlegen kann oder will) und die Therapie wenig effektiv aussehen lässt.

Die empirische Datenlage zu den Anpassungsstörungen muss deshalb derzeit als unzureichend eingestuft werden, geben die Autoren der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm in Günzburg zu bedenken. Vielleicht ändert sich hier etwas mit der Neu-Auflage der beiden entscheidenden Klassifikationssysteme von dann ICD-11 und DSM-V.

LITERATUR

Nachfolgend eine historische Übersicht deutschsprachiger Fach- und Lehrbücher einschließlich WHO und APA. Aktuelle Fachartikel zum Thema, meist englischsprachig, siehe der besprochene Beitrag.

APA : Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-IV-TR. Hogrefe-Verlag, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2003

Freud, S., J. Breuer : Studien zur Hysterie. Deutike-Verlag, Leipzig, 1895

Jaspers, K. : Allgemeine Psychopathologie. Springer-Verlag, Heidelberg 1923

Kraepelin, E. : Psychiatrie. Barth-Verlag. Leipzig, 1909 (weitere 7 Auflagen bis 1913)

Leonhard, K. : Grundlagen der Psychiatrie. Enke-Verlag, Stuttgart 1948

Oppenheim, H. : Die traumatischen Neurosen. Hirschwold-Verlag, Berlin 1889

Peters, U. H. : Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. Verlag Urban & Fischer, München-Jena 2007

Schneider, K. : Klinische Psychopathologie. Thieme-Verlag, Stuttgart 1987

WHO : Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern, 1999

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