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ANOREXIA NERVOSA - eine kurz gefasste diagnostische Übersicht der Magersucht

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Ess-Störungen sind so alt wie die Menschheit, haben aber in letzter Zeit be­drohlich zugenommen. Dies vor allem bei jungen Frauen in den westlichen Industrienationen. Unterschieden werden insbesondere die Bulimia nervosa, d. h. wiederholte Fressanfälle mit selbst-induziertem Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln und überzogenem Fasten zur Gewichtssteuerung sowie die Binge-Eating-Störung, bei der in kurzem Zeitraum und ohne Kontrollmöglichkeiten enorme Nahrungsmengen verschlungen werden, mit allen Folgen. Vor allem aber die Anorexia nervosa, bei der sich die Betroffenen beharrlich weigern ein Minimum des normalen Körpergewichts zu halten.

Dazu eine kurz gefasste Übersicht, denn gerade diese Ess-Störung hat spezielle kulturell-gesellschaftliche, vor allem aber psychologische, psychosoziale bzw. psychopathologische (seelisch-krankhafte) Ursachen.


Erwähnte Fachbegriffe:

Ess-Störungen - Anorexia nervosa - Bulimia nervosa - Binge-Eating-Störung - Fressanfälle - Asitie - Magersucht - krankhafte Appetitlosigkeit - Angst vor Gewichtszunahme - Gewichts-Kriterien - Normal-Körpergewicht - Body-Mass-Index (BMI) - krankhafter Ernährungsplan - riskante Diäten - selbst-induziertes Erbrechen - Abführmittel - Diuretika - harntreibende Medikamente - übermäßige körperliche Aktivität - Purging-Verhalten - Dickwerden-Furcht - Wiegen-Zwang - Körpermess-Zwang - geringes Selbstwertgefühl - Gewichts-Panik - krankhafte Nahrungs-Selbstkontrolle - überzogene Sport-Aktivitäten - Mahlzeiten-Bilanzierungen - Kalorien-Zählen - Rumination - Nahrungsmittel-Kauen - Depressionen - Stimmungsschwankungen - Angststörungen - chro­nische Müdigkeit - Muskelschwäche - Schwindel - Ohnmachtgefühle - Kälte-Empfindlichkeit - Kopfschmerzen - Bauchschmerzen - Blähungen - Ver­stopfung - Durchfälle - Sodbrennen - Monatsblutungsstörungen - Ame­norrhoe - Infertilität - Polyurie - Kreislaufstörungen - Hyperaktivität - Haut-Trockenheit - Handrücken-Schwielen - Haut-Blutungen - Lanugo-Behaarung - Haar-Brüchigkeit - Fingernagel-Brüchigkeit - Haarausfall - Zahnfleisch-Entzündung - Zahnerosionen - Karies - Mund-Geschwüre - Mundrhagaden - Speicheldrüsen-Schwellungen - Ohrspeicheldrüsen-Schwellungen - blutiges Erbrechen - Stoffwechsel-Störungen - Blutbild-Veränderungen - Osteoporose - Sexualhormon-Störungen - Rezept-Horten - Nahrungsmittel-Sammeln - Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) - Schizophrenie - Zwangsstörung - körperdysmorphe Störungen - Entstellungs-Syndrom - Sozialphobie - tödliche Anorexie-Konsequenzen - Suizid - Verhungern - u. a. m.


ALLGEMEINE ASPEKTE

Die Ess-Störungen sind keine neue Krankheit. Erste Hinweise finden sich be­reits im 4. Jahrhundert vor Christi Geburt, vor allem bei den alten Griechen. Doch in den letzten Jahrzehnten haben sie deutlich, in einigen Nationen, vor allem in der westlichen Welt gar bedrohlich zugenommen, besonders beim weiblichen Geschlecht. In der Altersgruppe der 15- bis 34-jährigen Frauen sind sie der 4. häufigste Grund für ernste, gesundheits-bedrohende Funktionsein­schränkungen.

Deshalb ist auch die Zahl der wissenschaftlichen Untersuchungen und Publi­kationen einschließlich Fachbücher, aber auch der allgemein verständlichen Veröffentlichungen mit entsprechenden Sachbüchern erfreulich gewachsen. Ein Überblick erscheint fast nicht mehr möglich, was die psychologischen, vor allem neurosen-psychologischen, psychosomatischen, psychodynamischen, psychiatrischen, neurologischen, internistischen, ja haut- und sogar zahnärzt­lichen Aspekte der Ess-Störungen anbelangt.

Nachfolgend deshalb nur eine kurz gefasste diagnostische Übersicht nach all­gemeinem Lehrbuch-Wissen:

Wie teilt man die Ess-Störungen ein?

Derzeit unterscheidet man drei Haupt-Typen von Ess-Störungen: Anorexia nervosa (AN), Bulimia nervosa (BN) und die Binge-Eating-Störung (BES).

Der Begriff Anorexia nervosa geht auf das Griech.: Anorexia = ohne Appetit, appetitlos zurück (wobei dieses Phänomen bei den meisten Betroffenen gar nicht im Vordergrund steht).

Die Bulimia nervosa, vom Griech.: Boulimia = Heißhunger, auch als „Ochsenhunger“ bezeichnet, wurde erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Thema.

Was sind nun die wichtigsten diagnostischen Kriterien nach der Internationalen Klassifikation psychischer Störung - ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bzw. dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen - DSM-5® der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA)? Im Einzelnen:

  • Anorexia nervosa

Das entscheidende Symptom der Anorexia nervosa ist das selbst herbeigeführte Untergewicht durch eingeschränkte Nahrungsaufnahme. In der ICD-10 heißt dies:

- Das Körpergewicht liegt 15 % unter dem erwarteten Body Mass Index (BMI) oder BMI ≤ 17,5. Der selbst herbeigeführte Gewichtsverlust geht auf die Vermeidung hochkalorischer Speisen und/oder selbst-induziertes Erbrechen, selbst-induziertes Abführen, übertriebene körperliche Aktivitäten, Gebrauch von Appetitzügler oder Diuretika (harntreibende Mittel) zurück.

Dabei unterscheidet man zwei Untertypen:

- Beim „restriktiven Typ“ der Anorexia nervosa geht der Gewichtsverlust weitgehend auf eine reduzierte Kalorienzufuhr zurück, nicht selten auch in Kombination mit exzessivem Bewegungsverhalten.

- Beim so genannten „Binge-/Purging-Typ“ der Anorexia nervosa besteht (zusätzlich) eine bulimische Belastung, d. h. die Mahlzeiten werden regelmäßig erbrochen, und dies oft in Verbindung mit vorausgehenden regelrechten Ess-Anfällen (auch von den Patienten selber als Fress-Attacken bezeichnet).

Typisch für die Anorexia nervosa ist fast immer eine so genannten Körperschema-Störung oder Körperbild-Störung. Dabei nehmen sich die Betroffenen dicker wahr, als sie tatsächlich sind, zum Teil ganz erheblich überdimensioniert. Das führt natürlich zu ausgeprägter Angst zu dick zu werden (oder gar „zu fett zu sein“). Mit anderen Worten: Die Patienten empfinden sich deutlich unförmiger, als sie sind. Das Gewicht bzw. die Figur anderer Menschen hingegen können sie meist realistisch einschätzen.

Offenbar handelt es sich hier um innerseelische bzw. gehirnfunktions-abhän­gige Prozesse, also kognitive (geistige) Bewertungsabläufe und innere Reprä­sentanzen, sozusagen Selbstbilder im Gehirn, die das Wahrgenommene ver­zerrend beeinflussen.

Bei der Anorexia spielen in rein organischer Hinsicht auch endokrine Störungen des Hormon-Systems eine Rolle, vor allem auf der so genannten Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse, wie es fachlich heißt. Das kann zu einer Entwicklungs-Verzögerung zu Beginn der Pubertät führen, was sich aber bei rechtzeitiger Genesung zu normalisieren vermag.

Weitere Hinweise siehe die ausführlicheren Ergänzungen im speziellen Teil dieser kurz gefassten Übersicht.

  • Bulimia nervosa

Kennzeichnendes Merkmal der Bulimia nervosa sind immer wiederkehrende Ess-Anfälle bis regelrechte Heißhunger-Attacken, bei denen in kurzer Zeit große Mengen von Nahrungsmitteln konsumiert („verschlungen“) werden. Und dies ohne jegliche Kontrollmöglichkeit, um rechtzeitig gegenzusteuern (Fachbegriff: Kontrollverlust).

Dazu eine andauernde Beschäftigung in jeglicher Hinsicht mit Nahrung, Es­sen, Verdauen u. a. Und ein reiches Repertoire an Maßnahmen, um trotz allem eine Gewichtszunahme zu vermeiden, was auch in der Regel gelingt. Dazu gehören vor allem selbst-induziertes Erbrechen, restriktive (eingeschränkte) Ernährungsmethoden, Laxanzien-Missbrauch und exzessive Bewegungs-Be­mühungen.

Wissenschaftlich unterscheidet man dabei das Gegensteuern durch Abführmittel („Purging-Typ“) oder das restriktive Essen bzw. überdimensionierte Sport-Aktivi­täten („Non-Purging-Typ“).

Auch bei den Bulimia nervosa-Patienten herrscht eine ausgeprägte Angst zu dick zu werden. Dies nicht zuletzt, weil einer Bulimie häufig eine Anorexia nervosa mit ihren konkreten Befürchtungen vorausgeht. Dennoch sind diese Patienten meist normal- und nur selten übergewichtig. Auch ähnelt ihr Essverhalten außerhalb der Ess-Anfälle oft demjenigen bei Anorexia nervosa, was dann Heißhunger und Ess-Anfälle begünstigt (so genannter „bulimischer Teufelskreis“).

  • Binge-Eating-Störung

Die Binge-Eating-Störung ist eine neuere Variante durch die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung (APA), dargestellt in der 5. Auflage ihres Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen - DSM-5® (2013, deutsche Fassung 2015).

Sie ist anhand dieser Diagnose-Kriterien charakterisiert durch wiederholte Episoden von Ess-Anfällen, und zwar

1. Nahrungsmengen in einem umschriebenen (z. B. 2-stündigen Zeitraum), die definitiv größer sind, als die meisten Menschen in vergleichbarer Zeit und unter ähnlichen Umständen essen würden und

2. durch das Gefühl des Kontrollverlustes über das Essen, d. h. den Eindruck, dass man mit dem Essen nicht aufhören bzw. nicht kontrollieren kann, was und wie viel man isst.

Außerdem fallen noch folgende Hinweise auf: Wesentlich schneller essen als normal; essen bis zum einem unangenehmen Völlegefühl; essen großer Nahrungsmengen, wenn man sich körperlich nicht hungrig fühlt; alleine essen aus Verlegenheit über die Menge, die man isst; schließlich Ekelgefühle gegenüber sich selber, Deprimiertheit oder große Schuldgefühle nach dem übermäßigem Essen. Und bei allem ein deutlicher Leidensdruck wegen dieser Ess-Anfälle, die im Durchschnitt mindestens einmal pro Woche für drei Monate auftreten sollen, um die Diagnose zu erhärten.

Da gegensteuernde Maßnahmen fehlen, beispielsweise das Erbrechen, sind Patienten mit einer Binge-Eating-Störung meist übergewichtig oder adipös.

ANOREXIA NERVOSA

Nachfolgend nun eine komprimierte Übersicht zu dem speziellen Phänomen der Anorexia nervosa. Im Einzelnen:

Begriff - Definition - Gewichts-Kriterien

Der Begriff der Anorexie ist zwar in aller Munde, aber - wie so oft - gar nicht zutreffend. Denn Anorexie (auch Asitie genannt) heißt so viel wie Verlust des Nahrungstriebes, allgemein verständlich: Appetitlosigkeit und hat mit einer Magersucht erst einmal nichts zu tun. Denn Appetitlosigkeit kann auch durch zahlreiche körperliche Erkrankungen und sogar Behandlungsmaßnahmen ausgelöst werden. Im vorliegenden Falle ist er noch insofern irreführend, weil gerade die Anorexia = Appetitlosigkeit bei den Ess-Störungen besonders sel­ten auftritt. Gleichwohl ist man bei diesem Begriff geblieben, er hat sich etab­liert und erfüllt inzwischen auch seine Aufgabe.

Definition: Hauptmerkmale der Anorexia nervosa sind also die Weigerung, ein Minimum des normalen Körpergewichts zu halten, große Angst vor Ge­wichtszunahme und eine erhebliche Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und besonders des Körperumfanges (zusätzliche Symptome sind bei­spielsweise auch die Amenorrhoe, also das Ausbleiben der Monatsblutung).

Gewichts-Kriterium: Was unter einem normalen Körpergewicht zu verstehen ist, das regeln bestimmte medizinische Richtlinien, die dann auch das Unter­gewicht definieren. „Normal“ heißt, dass das Körpergewicht nicht weniger als 85 % jenes Gewichts betragen darf, was als normal für dieses Alter und diese Größe angesehen wird (dafür gibt es dann entsprechende Tabellen wie bei­spielsweise den Body-Mass-Index - BMI u. a.).

Da es sich hier aber auch um individuelle Grenzwerte handeln kann, insbe­sondere was Körperbau und Gewichtsentwicklung anbelangt, pflegt man in der Regel erst dann aufmerksam zu werden, wenn der Betreffende deutlich unter­gewichtig wird.

Wen trifft die Anorexia nervosa?

Die Anorexia nervosa scheint am häufigsten in industrialisierten Gesellschaf­ten vorzukommen, in denen es einen Überfluss an Nahrung gibt und letztlich niemand hungern muss. Am häufigsten tritt sie bisher in den USA, in Kanada, Europa, Australien, Japan, Neuseeland und sogar Südafrika auf. Möglicher­weise gibt es aber in vielen anderen Nationen nur nicht so exakte Unter­suchungsergebnisse, obgleich das Leiden dort ebenfalls vorkommt bzw. vielleicht sogar im Ansteigen begriffen ist.

Wichtig sind vor allem die psychosozialen bzw. gesellschaftlichen Aspekte des jeweiligen kulturellen Bereiches, wobei es letztlich immer wieder auf einen Aspekt hinauszukommen scheint, nämlich: Attraktivität durch Schlankheit.

- Geschlecht: Mehr als 80 % der Fälle betreffen (junge) Frauen. Männer sind aber von diesem Leiden nicht ausgeschlossen.

- Die Häufigkeit (Fachbegriff: Lebenszeitprävalenz) für Anorexia liegt für Frauen bei etwa 0,5 -1 %. Die Dunkelziffer dürfte aber groß sein und der Prozentsatz sich vor allem dann erhöhen, wenn es sich um „Grenz-Fälle“ handelt, die man (noch) nicht der eigentlichen Anorexia nervosa zurechnen kann. Insgesamt aber hat die Zahl in den letzten Jahrzehnten deutlich zu­genommen - offenbar weltweit.

- Der Beginn liegt üblicherweise in der mittleren bis späteren Adoleszenz (also zwischen 14 und 18 Jahren, Durchschnittsalter bei 17), selten vor der Pubertät. Dort, wo die Anorexia nervosa später ausgebrochen sein soll, scheinen bei genauer Untersuchung schon früher gewisse seelische Stö­rungen aufgetreten zu sein, die nur nicht zur Sprache kamen oder einfach (bewusst oder unbewusst) übersehen wurden. Auf jeden Fall ist der erst­malige Ausbruch jenseits des 40. Lebensjahres überaus selten (und muss dann auf andere, vor allem organische Ursachen einer krankhaften Magersucht-Entwicklung hin sorgfältig untersucht werden).

- Oft ist der Beginn der Krankheit mit einem belastenden Lebensereignis ver­bunden.

- Die seelischen, psychosozialen und körperlichen Folgen und damit der Ver­lauf des Leidens können sehr unterschiedlich ausfallen: Einige Betroffene genesen völlig nach einer einzigen Anorexie-Episode, andere zeigen ein so genanntes fluktuierendes Muster (Auf und Ab) von Gewichtszunahme und Rückfall. Wieder andere erleben einen sich chronisch verschlechternden Gesundheitszustand über Jahre und Jahrzehnte hinweg.

Insbesondere während der ersten fünf Jahre kann das Beschwerdebild von einem Ess-Störungs-Typ zum anderen wechseln, also beispielsweise von der reinen Anorexia nervosa zur Bulimia nervosa, bisweilen auch umge­kehrt.

- Eine erbliche Belastung ist nicht auszuschließen. Für biologische Ver­wandte ersten Grades besteht sogar ein erhöhtes Risiko an Anorexia ner­vosa zu erkranken. Ähnliches gilt für affektive Störungen, also vor allem Depressionen. Auch die Zwillings-Forschung spricht eine deutliche Spra­che, was die mögliche Erblast betrifft.

- Ess-Störungen können ein lebensgefährliches Leiden werden. Wenn die seelischen und vor allem organischen Folgen schließlich bedrohlich wer­den, ist ein Klinikaufenthalt nicht mehr zu umgehen. Das sollte man ernst nehmen. Denn allein die Universitätskliniken mit ihrer statistischen Doku­mentation sprechen bei der Anorexia nervosa von einer Langzeitmortalität (tödliches Ende aufgrund dieser Erkrankung) von etwa 10 %.

Die häufigste Todesursache ist - man sollte es nicht für möglich halten - Verhungern. Danach folgen Selbsttötung und schließlich organische Fol­gen, insbesondere ein Ungleichgewicht in bestimmten Stoffwechsel-Berei­chen des Organismus (z. B. Elektrolyte).

Wie wird man anorektisch?

Gewöhnlich wird der Gewichtsverlust durch eine Einschränkung der gesamten Nahrungsaufnahme erreicht. Zuerst schließen die Patienten (die aber noch gar nicht als solche erkannt worden sind, geschweige denn sich selber als krank begreifen würden) jene Nahrungsmittel aus ihrem Ernährungsplan aus, die sie als hochkalorisch betrachten (was nicht immer stimmt). Nach und nach mündet dieses Verhalten in eine Diät, meist sehr starre und damit noch riskantere, als es ohnehin einige Diäten vorhalten. Schließlich beschränken sich viele auf einige wenige Nahrungsmittel ihrer (kalorien-reduzierten) Wahl.

Weitere Methoden zur Gewichtsreduktion sind selbst-induziertes Erbrechen (zuerst etwas mühsam mit dem Finger im Hals, später fast „automatisch“) sowie der Missbrauch von Abführmitteln und Diuretika (harntreibende Medikamente). Außerdem eine gesteigerte oder schließlich übermäßige körperliche Aktivität (Fachbegriff: Purging-Verhalten, wie es bei der anderen Ess-Störung, der Bulimia nervosa zur Regel wird).

Ursachen und Hintergründe einer Anorexie

Grundelement dieser krankhaften Entwicklung ist eine große und oft noch ständig wachsende Furcht vor einer Gewichtszunahme oder gar vor dem „Dickwerden“. Das ist zwar nichts Ungewöhnliches, in diesem Falle aber doch. Denn wer dicker zu werden droht und etwas dagegen tut (z. B. körperliche Aktivität), wird auch mit Freude und Genugtuung feststellen, dass sich dieser unerwünschte Trend verlangsamt und schließlich wieder zur Normalität zurückführt. Dann lässt auch die begründete Angst nach.

Anders bei der Anorexia nervosa. Die Furcht vor dem Dickwerden wird nämlich bei diesen Patienten durch den Gewichtsverlust nicht gemindert, im Gegenteil: Es wächst sogar die Besorgnis über eine „bedrohliche“ Gewichtszunahme, und das häufig trotz stetigen Gewichtsverlustes. Das ist eines der kennzeichnenden Merkmale: Die Betroffenen werden immer magerer, fürchten aber paradoxerweise immer ausgeprägter ein auffälliges Dickwerden. Woher dies alles?

Bei Patienten mit Ess-Störungen ist das Erleben und vor allem die Bedeutung des Körpergewichts und damit der Gesamt-Figur gestört. Manche fühlen sich insgesamt als übergewichtig (und dadurch abstoßend, hässlich, nicht liebenswert). Andere erkennen wenigstens an, dass sie „stellenweise“ zu dünn sind, bleiben aber trotzdem besorgt wegen gewisser Körperpartien, die sie dann isoliert als „zu dick“ bezeichnen bzw. sogar so sehen. Beispiele: Hüften, Gesäß, Bauch.

Dadurch entwickeln nicht wenige ein geradezu nervöses Spektrum von Verhaltensweisen, um ihre Figur oder ihr Körpergewicht permanent und vor allem subjektiv einzuschätzen: ständiges Wiegen, zwanghaftes Abmessen bestimmter Körperpartien, dauernde Benutzung eines Spiegels, um als vermeintlich dick wahrgenommene Körperteile zu prüfen u. a.

Kurz: Das Selbstwertgefühl von Menschen mit Anorexia nervosa ist in hohem Maße abhängig von ihrer Figur und ihrem Körpergewicht. Ein vermeintliches Ansteigen bringt sie in Panik. Ein gleichbleibendes normales Gewicht beruhigt sie nicht. Ein Gewichtsverlust hingegen wird als beeindruckende Leistung und Zeichen außergewöhnlicher Selbstdisziplin gewertet (während eine scheinbare Gewichtszunahme als inakzeptables Versagen der Selbstkontrolle gefürchtet wird).

Außerdem verleugnen die Betroffenen das, was jeden Menschen mit unfreiwilliger Gewichtsabnahme mit Sorge erfüllt: die medizinischen Konsequenzen ihres mangel-ernährten Zustands (siehe später). Anorexie-Patienten irritiert derlei nicht - nicht einmal angesichts drohender Gesundheits-Gefährdung.

Deshalb ist es in der Regel auch unergiebig, die Patienten selber über ihren Zustand berichten zu lassen, vor allem was Nahrungsmittel-Auswahl und besorgnis-erregende Vorzeichen einer durch Fehlernährung ausgelösten Erkrankung anbelangt. Man muss ihre Angehörigen befragen, Anorexie-Patienten selber sind keine verlässlichen Berichterstatter.

Welche Beschwerden finden sich bei einer Anorexia nervosa?

Schwierig kann die Frage werden, was ist Folge (direkt oder indirekt) bzw. welche sonstigen Störungen können mit einer Magersucht zusammenfallen und damit ggf. verwechselt werden? Das bedarf der sorgfältigen Abklärung durch den jeweiligen Facharzt (Psychiater, Neurologe, Internist, Gynäkologe, Orthopäde u. a.).

Nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht über jene Krankheitszeichen, die sich (in welchem Zusammenhang auch immer) bei einer Anorexia nervosa finden lassen, in einer speziellen Tabelle noch einmal zusammengefasst:

  • Am meisten Probleme bereiten seelische und psychosoziale Störungen:

- So entwickeln spätestens bei ausgeprägtem Untergewicht viele Betroffene mit Anorexia nervosa depressive Krankheitszeichen: niedergeschlagen, resigniert, freudlos, aber auch reizbar, aggressiv, schlaflos, ohne sexuelles Interesse, dazu von Rückzugsneigung und Isolationsgefahr bedroht. Dies kann soweit gehen, dass das Beschwerdebild dem einer ausgeprägten Depression ähnelt, so wie man früher die endogene Depression definierte (also eine von „innen“, d. h. biologisch geprägte Schwermut, die heute in der englischsprachigen Fachwelt als Major Depression bezeichnet wird).

Unter diesen Umständen kann es sich tatsächlich einmal zwischen Depression und Ess-Störung um eine Verwechslung handeln, besonders in bestimmten Phasen beider Leiden, wo sich die Symptome noch am ehesten annähern, ohne dass weitere Charakteristika schließlich die zutreffende Diagnose ermöglichen.

- Gelegentlich finden sich auch Hinweise auf ein ungewöhnliches „Zwangsverhalten“, was sich sowohl auf die Nahrung als auch auf nicht-nahrungs-bezogene Aspekte beziehen kann. Bei den Magersucht-Patienten konzentrieren sich die Zwangsgedanken allerdings in der Regel auf ihr Nahrungs-Verhalten bzw. bestimmte Nahrungsmittel. Einige sammeln sogar Rezepte oder horten Nahrungsmittel.

Wenn sich also das Zwangsverhalten besonders auf die spezielle Ernährung beschränkt, dann ist es im Rahmen der Anorexia nervosa zu sehen. Wenn es auch weitere Zwänge einschließt, dann handelt es sich möglicherweise um eine so genannte Co-Morbidität, d. h. dann sind zwei Krankheiten auf einmal zu ertragen (Anorexie und Zwangsstörung).

- Weitere psychosoziale Merkmale, die bisweilen mit einer Anorexia nervosa einhergehen können, sind bestimmte Vorbehalte, warum nicht in der Öffentlichkeit gegessen werden kann (die Gründe kann man sich denken - s. o.), ferner Gefühle der Ineffektivität („ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht“, so wie es auch Depressive in ihrem schwermütigen Tief quält). Schließlich das starke Bedürfnis die eigene Umwelt zu kontrollieren (denn dadurch lassen sich die auffälligen Nahrungs-Verhaltensweisen am besten durchziehen), unterstützt von einem immer rigider (starrer) werdenden Denken, das auch einmal in einen unnötigen Perfektionismus münden kann.

Und am Schluss ein Rückgang der sozialen Aktivitäten und Initiativen, wie es in der Fachsprache heißt, oder allgemein verständlich: immer weniger Kontakt zu Familie, Nachbarn, Freunden, Kollegen u. a., bis hin zur zwischenmenschlichen Isolation.

- Nicht wenige Anorexie-Betroffene sind aber schon vor ihrer Ess-Störung durch bestimmte Persönlichkeitszüge aufgefallen. Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel über Persönlichkeitsstörungen. Hier gilt es vor allem die so genannte Borderline-Persönlichkeitsstörung zu studieren.

- Auch besteht mitunter eine Neigung zu Alkohol- und Rauschdrogen-Missbrauch, insbesondere bei jenen Patienten, die noch Laxanzien (Abführmittel) und Diuretika (harntreibende Substanzen) missbrauchen (was speziell die Ess-Störung Bulimia nervosa betrifft - siehe diese).

- Zuletzt fallen viele dieser Patienten schon vor ihrer Ess-Störung (und später noch viel mehr) durch eine ausgeprägte Gemüts-Labilität (Fachbegriff: Affektlabilität) auf, die sich in Krisenzeiten zu „dunklen Gedanken“ oder gar Suizidversuchen verdichten können.

  • Was die körperlichen Beschwerden anbelangt, die im Rahmen eines solchen Nahrungsmittel-Fehlverhaltens zu ertragen sind (bzw. dadurch verstärkt werden), so handelt es sich hier vor allem um eine Amenorrhoe (also ein Ausbleiben der Monatsblutung) sowie um Stuhlverstopfung, Bauchschmerzen, Kälte-Unverträglichkeit etc.

Und im so genannten Antriebsverhalten, also einem mehrschichtigen Phänomen (seelisch, geistig, psychosoziale und körperlich) um zwei gegensätzliche Pole: Entweder Lethargie (Teilnahmslosigkeit, Trägheit) oder eine oftmals überschießend freigesetzte Energie, die je nach Möglichkeit oder Neigung auch einmal sportlich abgeführt werden kann oder muss. Manchmal wechseln sich die beiden Extrem-Zustände auch ab: einmal müde, matt und apathisch, dann wieder aktiv, dynamisch bis überdreht oder gar hektisch. Der Endzustand einer solchermaßen extrem durchgezogenen Magersucht ist schließlich die Auszehrung, also ein regelrechter körperlicher Verfall.

Es gibt aber auch eine Reihe weiterer Funktionsstörungen auf verschiedenen organischen Ebenen, die sogar aufmerksamen Laien aufzufallen pflegen und natürlich den Arzt zum Handeln zwingen. Beispiele: Blutdruckabfall, zu geringe Körpertemperatur, Hauttrockenheit, ja sogar eine feine, flaumige Körperbehaarung am Rumpf (so genannte Lanugo).

Nicht wenige Anorexie-Patienten leiden auch unter einer zu langsamen Herzschlagfolge, einige entwickeln periphere Ödeme (also Flüssigkeitseinlagerungen in den Geweben, vor allem in Händen und Füßen), mitunter sogar kleine Hautblutungen (Petechien), gewöhnlich an Armen und Beinen.

Wieder andere weisen eine unnatürliche gelbliche Hautverfärbung auf oder verändern ihre Gesichtskonturen, weil die Speicheldrüsen am Kieferwinkel (Ohrspeicheldrüsen) plötzlich größer werden. Bei jenen Personen, die ihr Erbrechen selber einleiten, kann es auch zu Beeinträchtigungen des Zahnschmelzes kommen. Einige zeigen sogar Narben oder Schwielen auf dem Handrücken, hervorgerufen durch ihre Zähne, wenn sie mit Fingern oder gar der ganzen Hand das Erbrechen auslösen.

Wenn es schließlich zu ernsten medizinischen Folge-Krankheiten kommt, dann drohen vor allem (Fachbegriffe, Einzelheiten siehe Fachliteratur) eine normochrome, normozytische Anämie, eine verschlechterte Nierenfunktion (verbunden mit chronischer Dehydrierung und Hyperkaliämie), kardiovaskuläre Störungen (extreme Hypotonie, Arrhythmien), Osteoporose (in Folge geringer Calciumeinnahme und -resorption) sowie reduzierte Östrogen- und erhöhte Cortisol-Ausschüttungen.

ESS-STÖRUNGEN AUF EINEN BLICK


  • Rechzeitiges Erkennen - erste konkrete Fragen

- Sind Sie besorgt wegen Ihres Gewichts?
- Denken Sie häufig über Essen und Nahrungsmittel nach?
- Kontrollieren Sie Ihr Essverhalten oder halten Sie Diät?
- Haben Sie an Gewicht verloren oder zugenommen? Wenn ja, in welchem Zeitraum?
- Haben Sie Ess-Anfälle?
- Betreiben Sie Sport, um Gewichtszunahme zu verhindern?
- Erbrechen Sie oder tun Sie andere Dinge, um Gewichtszunahme zu verhindern?

  • Wie äußert sich eine Ess-Störung?

- Typisches Ess-Verhalten: Diäten, Auslassen von Mahlzeiten, Fastentage, Vermeidung von kalorienreichen Nahrungsmitteln (schwarze Liste), Bilanzieren von Mahlzeiten (Kalorienzählen), zwanghafter oder ritualisierter Umgang mit Nahrungsmitteln, Vermeidung sozialen Essens

- Ess-Anfälle: subjektiv bzw. objektiv (mit Mengen außerhalb der bei gewöhnlichen Mahlzeiten zugeführten Portionen)

- Konsum von nicht-nutritiven Substanzen: ungenießbare Stoffe in jeder Form (z. B. Erde, Lehm, Steine, Eis, Asche, Haare, Holz, ungenießbare Nahrungs-Bestandteile)

- Exzessive Aufnahme von Wasser

- Ungewöhnliche Maßnahmen zur Gewichtskontrolle: induziertes (selbst ausgelöstes) Erbrechen, Rumination (Nahrungsmittel kauen und ausspucken), exzessive körperliche Aktivität, Substanzgebrauch mit Appetitzüglern, Abführmitteln, Entwässerungs-Medikamenten

- Emotionale Beeinträchtigung: Depression, Stimmungsschwankungen, rasche Verunsicherung u.a.

- Leistungsminderung: Müdigkeit, Muskelschwäche, Schwindel, Ohnmachtgefühl, Kälte-Empfindlichkeit

- Schmerzen: Kopfschmerzen, Bauchschmerzen

- Magen-Darm-Beschwerden: Blähungen, Verstopfung, Durchfälle, Sodbrennen

- Schlafstörungen

- Gynäkologische und sexuelle Funktionsstörungen: Zyklusstörungen, Amenorrhoe (Ausbleiben der Monatsblutung), Infertilität (Unfruchtbarkeit)

- Polyurie: häufiges Wasserlassen

  • Klinische Zeichen bei Ess-Störungen

- Körperliche Auffälligkeiten: Untergewicht, Übergewicht, Gewichtsschwankungen, vermindertes Längenwachstum und geringere Körpergröße

- Veränderungen der Körpertemperatur: zu geringe Körpertemperatur, kalte Hände und Füße

- Kreislaufstörungen: niedriger Blutdruck, langsamer Herzschlag, Auffälligkeiten im Elektrokardiogramm (EKG), Flüssigkeitseinlagerungen in den Geweben (Knöchel, Unterschenkel, im Mundbereich)

- Bewegungsauffälligkeiten: unruhig, hyperaktiv, verlangsamt, umständlich, apathisch

- Organische Veränderungen: trockene Haut, gelbliche Haut, Schwielen am Handrücken, Hautblutungen, Lanugo (Fein-)-Behaarung, brüchige Haare, brüchige Fingernägel, Haarausfall, Zahnfleisch-Entzündung, Zahnschmelz-Veränderungen, Karies, Mundschleimhaut-Geschwüre, Schrunden am Mund, ungewöhnliche Knochenbrüche

- Magen- Darm-Veränderungen: geschwollene Speicheldrüsen (Ohrspeicheldrüse, Zungengrund-Speichedrüse), blutiges Erbrechen, Blähungen, Vorfall der Afterschleimhaut

- Auffälligkeit bei den Labor-Werten: niedriges Kalium, zu wenig weiße Blutkörperchen, zu wenig Sexualhormone (Östradiol, Progesteron, Testosteron, LH)

- Niedrige Schilddrüsenwerte, vermehrtes Cholesterin u.a.

Nach U. Schweiger, A. Peters, V. Sipos, 2003, modifiziert

Mit was kann eine Anorexia nervosa verwechselt werden?

Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es auch andere Ursachen eines bedrohlichen Gewichtsverlustes mit entsprechenden seelischen, psychosozialen und körperlichen Störungen gibt. Und dass man vor allem bei einer erstmaligen Erkrankung jenseits des 40. Lebensjahres in diesem Bereich sehr sorgfältig nachforschen muss.

  • Das betrifft beispielsweise organische Krankheitsfaktoren wie gastro-intestinale (Magen-Darm-)Erkrankungen, Hirntumoren, verborgenen Krebs-Befall in anderen Organen, das erworbene Immun-Abwehrschwäche-Syndrom u. a., die alle mit erheblichem Gewichtsverlust verbunden sind.

Doch es gibt einen großen Unterschied: So gut wie alle Patienten mit diesen organischen Ursachen haben zumeist kein gestörtes Körperbild und wünschen sich auch keinen weiteren Gewichtsverlust. Im Gegenteil: Sie sind sich der (Lebens-)Bedrohung durchaus bewusst bzw. können bei entsprechender Aufklärung alle Therapie-Empfehlungen akzeptieren und sich konsequent danach richten.

  • Was die seelischen Ursachen anbelangt, so muss man besonders auf eine Depression achten, bei der es ja ebenfalls zu Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust kommen kann. Doch auch hier streben die meisten Schwermütigen keinen Gewichtsverlust an (obwohl dieser noch am ehesten toleriert wird, nähert man sich doch erst einmal seinem „Idealgewicht“, „aber dann ist Schluss“). Vor allem haben sie keine so exzessive Furcht vor einer Gewichtszunahme (s. o.).

Auch bei der schizophrenen Psychose kann ein bizarres Essverhalten irritieren und gelegentlich ein erheblicher Gewichtsverlust auffallen. Doch auch hier zeigen die Betroffenen selten Angst vor einer Gewichtszunahme. Und wenn sie sich vor so mancher körperlichen Störung fürchten mögen, dann aber nicht so einseitig auf Figur und Gewicht ausgerichtet wie bei der Anorexia nervosa.

Einige kennzeichnende Merkmale sind allerdings auch bei anderen seelischen Störungen zu finden, auch wenn sie der Allgemeinheit weniger bekannt sein dürften, obgleich sie gar nicht so selten vorkommen. Dazu gehört die Soziale Phobie, also die Angst vor den anderen schlechthin mit Rückzug und Isolationsneigung, dazu gehören die erwähnten Zwangsstörungen und schließlich die körperdysmorphen Störungen (so genanntes Entstellungs-Syndrom, also die unbegründete Angst vor körperlicher Deformierung). Wo liegen die Berührungspunkte?

Patienten mit einer Anorexia nervosa können sich wie bei der Sozialen Phobie gedemütigt fühlen oder verlegen sein, wenn sie beim Essen in der Öffentlichkeit gesehen werden. Oder wie bei der Zwangsstörung können sie unter nahrungsbezogenen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken leiden (s. o.). Und bei der körperdysmorphen Störung können ihre Gedanken ständig um einen theoretischen Mangel an ihrer körperlichen Erscheinung kreisen.

Ob nun das eine zum anderen passt oder ob in diesem oder jenen Fall beide Krankheiten gleichwertig auftreten (die erwähnte Co-Morbidität), muss der Facharzt entscheiden. Danach richtet sich dann auch die Therapie.

Und bei der Bulimia nervosa sind - wie eingangs erwähnt - die Unterschiede noch deutlicher, nämlich wiederholte Episoden von „Fressanfällen“, gefolgt von selbstinduziertem Erbrechen, um die drohende Gewichtszunahme wieder rückgängig zu machen.

Schlussfolgerung und therapeutischer Ausblick

Die Ess-Störungen im Allgemeinen und die Anorexia nervosa im Speziellen sind keine „Mode-Leiden, die sich von selber wieder geben, sobald die gesellschaftlichen Zwänge (nach Schönheit und Schlankheit) nachlassen“. Sie sind gefährliche, ja verheerende, u. U. tödliche Erkrankungen, und dies in den eigentlich „besten Jahren“. Auf was ist zu achten?

- In seelischer Hinsicht kommt es vor allem zu Stimmungsschwankungen, Angststörungen, (Ess-)Zwangsgedanken, Minderwertigkeitsgefühlen, ggf. sogar Suizid-Vorstellungen.

- Körperlich drohen beispielsweise Müdigkeit, Muskelschwäche, Schwindel, Kälte-Empfindlichkeit, Ohnmachtgefühle, Kopf- und Bauchschmerzen, Zyklusstörungen, Unfruchtbarkeit, Herz-Kreislaufstörungen (niederer Blutdruck, langsamer Herzschlag), Haut-Veränderungen (trocken, gelblich, Schwielen, Hautblutungen), brüchige Haare und Fingernägel, Haarausfall, Magen-Darm-Veränderungen (geschwollene Speicheldrüsen, blutiges Erbrechen, Blähungen, Verstopfung, Durchfälle u. a.), Schlafstörungen, gynäkologische und sexuelle Funktionsstörungen (Zyklusstörungen, Ausbleiben der Monatsblutung, Unfruchtbarkeit), Stoffwechsel-Störungen (Blutbild, Schilddrüsenhormone, Cholesterin u. a.), orthopädische Beeinträchtigungen (z. B. Osteoporose mit entsprechender Knochenbrüchigkeit), ja sogar Zahnveränderungen (Zahnfleisch-Entzündung, Zahnerosionen, Karies) u. a. m.

Fazit: Ess-Störungen im Allgemeinen und die Anorexia nervosa im Speziellen sind gefährliche Krankheiten, vor allem weil sie lange nicht erkannt und meist lange beschönigt, nicht ernst genommen oder verheimlicht werden. Die Langzeit-Schäden liegen neben seelischen und psychosozialen Folgen besonders auf körperlichem Gebiet und sind dort u. U. kaum mehr korrigierbar.

Deshalb gilt es so früh wie möglich zu erkennen, was sich hier heimlich abzuzeichnen scheint und dann so geschickt, geduldig und aber auch konsequent wie möglich die notwendigen therapeutischen Schritten einzuleiten. Wie das im Einzelnen gehen kann bzw. muss, entscheidet der hinzugezogene Facharzt, wobei in der Regel zuerst der Hausarzt und danach in enger Zusammenarbeit der Psychiater, Arzt für Psychotherapeutische Medizin und/oder der entsprechend spezialisierte Psychologe zur Verfügung stehen.

Die Heilungsaussichten sind sehr unterschiedlich, hängen von vielerlei Faktoren ab und setzen vor allem eines voraus: Geduld und Konsequenz zugleich.

LITERATUR

Inzwischen ein fast nicht mehr übersehbares Angebot an wissenschaftlichen Publikationen und Fachbüchern, aber auch immer mehr allgemein verständliche Artikel und Sachbücher. Nachfolgend eine Auswahl deutschsprachiger Fachbücher zum Thema einschließlich der Grundlage dieses Beitrags sowie der eingefügten Tabellen:

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-5®. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2015

AWMF online: Leitlinien-Detailansicht. Diagnostik und Therapie der Essstörungen. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/051-026.html

Deutsche Gesellschaft für Essstörungen e.V.: Evidenzbasierte Leitlinien für die Diagnose und Behandlung von Essstörungen in Deutschland. http://www.dgess.de/wissen/leitlinien

de Zwaan, M.: Die Pharmakotherapie der Essstörungen. In: S. Herpertz u. Mitarb. (Hrsg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer-Verlag, Heidelberg 2008

Fichter, M.: Prävalenz und Inzidenz anorektischer und bulimischer Essstörungen. In: S. Herpertz u. Mitarb. (Hrsg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas. Springer-Verlag, Heidelberg 2008

Herpertz, S. u. Mitarb. (Hrsg.): Handbuch Essstörungen und Adipositas. SpringerMedizinVerlag, Heidelberg 2009

Herzog, W. u. Mitarb. (Hrsg.): Essstörungen. Schattauer-Verlag, Stuttgart 2004

Schweiger, U. A. Peters, V. Sipos: Essstörungen. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2003 (Grundlage des speziellen Teils dieser Ausführungen über Anorexia nervosa)

Thomae, H.: Anorexia nervosa. Verlag Huber und Klett, Stuttgart 1961

WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen - klinisch diagnostische Leitlinien. Hans Huber-Verlag, Bern 2005

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).