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C. Müller:
PSYCHIATRISCHE MINIATUREN
Spitalsgeschichten
Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010. 160 S., 19,95 €.
ISBN: 978-3-88414-495-4

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Das gab es früher häufiger, in einer Zeit, in der es auch noch mehr Autoritäten gab, und zwar von Persönlichkeit und Fach her zugleich. Gemeint sind feuilletonistisch gefasste Erkenntnisse, Erfahrungen und Erinnerungen eines in seinem Fach alt und weise (und oft auch durchaus erkennbar nachdenklich-demütig-dankbar) gewordenen Arztes. Da waren sehr wohl Schwerpunkte zu erkennen, doch auch Chirurgen, Pathologen, Internisten, nicht zuletzt Allgemeinärzte an der „Hausarzt-Front“ waren vertreten, vor allem aber psychiatrisch und/oder psychotherapeutisch Tätige.

Das war nicht nur erbaulich, besonders wenn es sich um Erst-Irrtümer und -Fehler späterer Kapazitäten handelte, vorausgesetzt, es ging gerade noch einmal gut, man konnte auch viel aus solchen subjektiven, aber um Objektivität bemühten Schilderungen lernen, manchmal mehr und nachhaltiger als durch jedes Lehrbuch. Natürlich gab es auch charakterliche Unterschiede, das zu spüren musste man keine psychiatrische Ausbildung haben: Vom „Pfau“, „Star“, „Medien-Nutzer“ (die Journalisten nennen das eher „Medien-Drängler“), mit bisweilen knapp an der Lächerlichkeit vorbei schrammenden Selbst-Bespiegelungen über Biographien, die sich erkennbar um die erwähnte (und gebotene!) Objektivität bemühten bis zu Lebens-Schilderungen, die bei aller späteren (nicht zuletzt bürokratischen) Mühe eine Herzenswärme und liebenswürdige Selbst-Ironie verströmten, die die Lektüre „von links nach rechts“ zum reinen Lese-Vergnügen mit hohem Nutzungs-Wert werden ließen.

Aber – wie erwähnt – das wird selten. Andere Berufssparten holen da auf oder halten ihren historisch hohen Biographie-Stand: Politiker allemal (wer liest eigentlich diese Flut von in der Regel weitergeschenkten Biographien?), Schauspieler, in der Kunst-Szene Tätigen, vom Intendanten und Regisseur bis zu denen, die wirklich „auf den Brettern stehen“, immer häufiger Wirtschafts-Bosse mit klugen Lösungs-Vorschlägen (und Abrechnungen bezüglich Konkurrenten, Vorgängern und sogar Nachfolgern), Sportlern und – und - ... Aber Mediziner, von denen man ja ggf. etwas lebens-naher für das eigene Durchkommen lernen könnte – immer weniger.

Da freut es den Rezensenten, wenn er nach diesem einführenden Lamento auf eine glücklich konzipierte Neu-Erscheinung verweisen darf, nämlich die von Prof. Dr. Christian Müller über Psychiatrische Miniaturen, sprich Spitalgeschichten in der Edition Das Narrenschiff im Psychiatrie-Verlag Bonn.

Der Schweizer Christian Müller, inzwischen fast 90 Jahre alt, war ein Vierteljahrhundert Direktor der Psychiatrischen Klinik von Cery-Lausanne sowie ordentlicher Professor für Psychiatrie an der Universität Lausanne. Schon Großvater und Vater waren Psychiater, da bleibt fast keine andere Wahl – genetisch gesehen. Seine Ausbildungs-Stationen hatte er in den großen Kliniken der Schweiz und Frankreich, auch unter der Leitung bedeutender Vertreter seines Faches (deren Lehrbücher heute noch zur Grundlagen-Ausbildung empfohlen werden können), bis er selber Klinik­direktor wurde, das „Haus seiner Kindheit“, wo er aufgewachsen war, reformierte, neue Ideen, Kenntnisse und Erfahrungen umsetzte, inhaltlich, formal wie baulich, ein intensives Forschungsprogramm ankurbelte (das bis heute noch in bestimmte psychiatrische Verfahren ausstrahlt), Bücher schrieb und herausgab, daneben auch noch standes-politisch tätig war und entsprechende Ehrungen empfangen durfte, Mitherausgeber großer Lehr- und Handbuch-Reihen sowie Fachzeitschriften wurde, eine eigene Zeitschrift gründete – und sich nach einem erfüllten Klinik-Leben nicht zur Ruhe setzte, sondern eine Privatpraxis eröffnete.

Das pflegt dann auch die Zeit zu sein, in der man sich (wieder) mit der Geschichte seines Faches beschäftigt und – wie in diesem Fall – sogar ein Psychiatrie-Museum mitgestaltet. Kurz: Eine solche Vita kann sich sehen lassen – vom Psychiater-Sohn zwischen „Anstalts-Mauern“ aufgewachsen bis zum noch immer fachlich tätigen pensionieren Klinikdirektor und emeritierten Universitäts-Professor.

Da nimmt es nicht Wunder, zumal schon früher Anklänge eines fruchtbaren populär-medizinischen Engagements erkenntlich wurden, dass eine Art „Illustration des Lebens im psychiatrischen Spital einstmals“ folgen musste (bzw. für uns durfte). Das ist nun überaus gelungen, getragen von einem fast schlichten Erzähler-Stil, der natürlich angesichts des Niveaus des Autors seinen eigenen, unübersehbaren Charme entwickelt. Und es ist keine verbohrte Auseinandersetzung oder gar bittere Abrechnung mit Wissenschaft und Versorgungssystem der Psychiatrie, sondern eine lebens-nahe Schilderung des Alltags, gewiss von früher, aber auch heute noch möglich – wenngleich im üblichen Versorgungs- und Bürokratie-Stress untergehend.

Um es kurz zu machen: Kleine Geschichten aus der Alltag von früher, die natürlich auch die Veränderungen erkennen lassen, die sich von der einstigen Seelenheilkunde bis zur modernen Psychiatrie abzeichnen (müssen). So gibt es typische, untypische, skurrile, ans Herz gehende, köstlich-humorvolle, nachdenklich stimmende, auf jeden Fall durchweg auch bildende, prägende, hilfreiche Alltags-Skizzen aus der Klinik-Psychiatrie, eben Spitals-Geschichten.

Das Ganze liest sich – wie erwähnt – locker, die Kapitel sind kurz und nicht anstrengend, man kann sie grundsätzlich „zwischendurch“ genießen, alle haben irgendwie einen tieferen Sinn und selbst die inhaltlich schwereren hinterlassen keine negativen Gefühle, denn man hat grundsätzlich den Eindruck, es wurde doch noch das Bestmögliche daraus gemacht.

Wem kann man nun dieses Büchlein empfehlen? Jedem. Psychiater und klinische Psychologen fühlen sich ohnehin durchweg „zu Hause“, haben vielleicht sogar manchmal das Bedürfnis nach der „guten alten Zeit“. Das Gleiche gilt für Schwestern, Pfleger, Sozialarbeiter und sogar psychiatrisch interessierte Verwaltungs-Mitarbeiter. Aber auch jeder andere, ohne direkten Kontakt zur Psychiatrie, kann hier viel Kurzweiliges, Erbauliches, Nachdenkliches, sogar für die eigene Lebens-Strategie Wegweisendes erfahren.

Dass ein Arzt an der Schwelle zum 100. Lebensjahr noch so etwas zu gestalten vermag, heißt unwiederbringliche Erfahrungs-Schätze bewahren und muss dankend als geistiges Geschenk gesehen werden (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).