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M. Wolfersdorf, Andrea Heindl:
CHRONISCHE DEPRESSION
Grundlagen, Erfahrungen und Empfehlungen
Pabst Science Publishers, Lengerich 2003. 176. S., € 20,00. ISBN 3-89967-064-7

H. Radebold, R.D. Hirsch, J. Kipp, R. Kortus, G. Stoppe, P. Struwe, C. Wächtler (Hrsg.):
DEPRESSIONEN IM ALTER
Steinkopff-Verlag, Darmstadt 1997. 330 S., € 41,00. ISBN 3-7985-1089-X

U. Hegerl, P. Hoff u. Mitarb.: DEPRESSIONSBEHANDLUNG UNTER KOMPLIZIERENDEN BEDINGUNGEN
Komorbidität - Multimedikation - Geriatrische Patienten
UNI-MED-Verlag, Bremen-London-Boston 2003. S., € 44,80, ISBN 3-89599-459-6

Seit man sich um Depressionen wissenschaftlich bemüht, nehmen sie zu. Das hat verschie­dene Gründe, wobei das rechtzeitige Erkennen, das informations-gestützte Verstehen, die fundierte Behandlung und die konsequente Prävention (Rückfallvorbeugung) sicher zu den wichtigsten Ursachen gehören. Denn die Schwermut ist so alt wie die Menschheit (und schon im Alten Testament sehr eindrucksvoll beschrieben, z. B. König Saul).

Es gibt aber auch Aspekte, die zumindest relativ neu und inzwischen auch gut belegt, wenn­gleich noch immer nicht im Griff sind. Dazu gehören die wachsende Tendenz zu chronischen Depressionen, das zunehmende Alter mit seiner vermehrten Depressionsanfälligkeit, die Komorbidität und die Multimedikation. Was heißt das?

Nur jede zehnte Depression wird angemessen behandelt

In der ambulanten Versorgung der rund vier Millionen depressiven Patienten in Deutschland bestehen erhebliche Defizite: Zwar befinden sich rund zwei Drittel der Betroffenen in hausärztlicher Behandlung. Doch nur etwa die Hälfte davon ist korrekt diagnostiziert, lediglich etwa ein Zehntel suffizient antidepressiv behandelt. Von denen wiederum erhält nur maximal die Hälfte die heute zur Verhinderung von Rezidiven als unverzichtbar angesehene Erhaltungstherapie (M. Härter auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde, Berlin 2003, zitiert nach MMW-Fortschritt Med. Nr. 3-4 (204) 50).

Nachfolgend deshalb die Besprechung zweier neuer Bücher und eines inzwischen als Standardwerk etablierten Sammelbandes.

-Chronische Depression - Grundlagen, Erfahrungen und Empfehlungen ist ein neues Buch des Depressions-Experten Prof. Dr. Manfred Wolfersdorf (zusammen mit P. Kielholz, Basel und G. Hole, Ravensburg-Weissenau einer der „Väter“ der heute vielerorts verfügbaren Depressions-Spezialstationen) und der Diplom-Psychologin Andrea Heindl (Depressi­onsambulanz, Bayreuth). Sie legen den Finger in eine Wunde, die größer ist als bisher zugestanden. Gemeint ist die Chronifizierungsgefahr depressiver Zustände. Je nach Untersuchung sollen zwischen 15 bis 40% (und mehr?) aus ihrer Melancholie nicht mehr herauskommen, jedenfalls nicht ohne einen konkreten Gesamt-Behandlungsplan. „Die Behandlung akuter depressiver Erkrankungen ist heute anspruchsvoll, aber sie gelingt“. Wie aber sind die nächsten depressiven Episoden zu verhindern? Und vor allem, was versteht man darunter was Zeitdauer, Wiedererkrankungsrate, Schweregrad, Therapieresistenz u. a. anbelangt?

Die komprimierte Darstellung von Wolfersdorf und Heindl vermittelt eine hervorragende Übersicht von der Begriffsbestimmung und Diagnose über die Häufigkeitsverteilung, den Verlauf (und vor allem verlaufsbestimmende Aspekte) bis zu verschiedenen Ursachen-Modellen (tiefenpsychologisch, verhaltenstherapeutisch, lerntheoretisch, kognitiv). Hilfreich die Behandlungskapitel: Grundzüge, Antidepressiva (und hier wieder die so genannte Thera­pieresistenz, also das Nicht-Ansprechen auf alle verfügbaren Therapieversuche), insbeson­dere die zu erwartenden Besonderheiten, mit denen zu rechnen ist. Hilfreich dann die Spezialkapitel über Angehörigenarbeit (nirgends hat der „ungehörte Seufzer“: „Patienten haben auch Angehörige…“ eine so große Bedeutung), ferner Arbeits- und Erwerbsfähigkeit, vorzeitige Berentung, Selbsthilfegruppen, soziotherapeutische Möglichkeiten und - gerade bei chronisch Erkrankten ein ständiges Damokles-Schwert - die drohende Suizidgefahr.

Dieses überschaubare und breit gefächerte Wissensangebot aus der praktischen Arbeit für die praktische Arbeit (einschließlich Angehöriger) sollte man verfügbar haben, denn Depres­sionen, insbesondere chronische, zermürben nicht nur den betroffenen Patienten.

-Der Sammelband Depressionen im Alter fasst die wichtigsten Beiträge der 3. Jahres­tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerontopsychiatrie und Gerontopsychotherapie (Kassel, 1997) zusammen. Er gehört - wie erwähnt - inzwischen zu den Standardwerken. Und er ist nötiger denn je. Denn depressive Störungen sind inzwischen die häufigste psychische Erkrankung im Alter. Vor allem werden sie viel zu selten diagnostiziert, insbesondere was die überaus häufige „subdiagnostische Depressivität“ anbelangt, also eine Nieder­geschlagenheit, die vielleicht nicht extreme Ausmaße annimmt, aber auch so oder so nicht vom Umfeld registriert würde, von konkreten diagnostischen, therapeutischen und rehabilitativen Maßnahmen ganz zu schweigen. Da hat der alte Mensch eindeutig die schlechtesten Karten.

Vor allem werden statt einer Depression immer wieder körperliche Erkrankungen oder eine Demenz diagnostiziert oder einfach ein „schicksalhafter Altersabbau“ unterstellt. Sicherlich, eine Depression im Alter äußert sich u. U. anders als in den mittleren Lebensjahren (so wie man das auch vom gegenteiligen Alters-Pol kennt: den Kinder- und Jugendlichen-Depres­sionen). Aber ein wenig Einarbeitung reicht, um auch hier rechtzeitig fündig zu werden. Denn selbst Depressionen im höheren Lebensalter erweisen sich bei fachlich kompetenter Behandlung als erfreulich gut überwindbar. Die verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten erstrecken sich von den modernen Antidepressiva und weiteren biologischen Verfahren (Schlafentzug, Durchflutungsbehandlung) über die Psychotherapie bis hin zu soziotherapeu­tischen Maßnahmen (nicht zuletzt angesichts eines der wichtigsten Ursachen depressiver Entwicklung, nämlich des Partnerverlustes).

Doch die Versorgungsrealität depressiv erkrankter Älterer ist unverändert mangelhaft (wobei besonders hier einer engen Zusammenarbeit zwischen den rund 5.000 verfügbaren Nerven­ärzten/Psychiatern und den etwa 50.000 Hausärzten die größte Bedeutung zukommt).

Auf was ist nun zu achten? Das wird in diesem Sammelband in zahlreichen Referaten und damit Kurz-Kapiteln wissenschaftlich umfassend, aber auch praxisbezogen dargestellt, eine Fundgrube des aktuellen Wissens (das leider noch effektiver wäre, stünde ein Sachwortver­zeichnis zur Verfügung, für das wenigstens das ausführliche Inhaltsverzeichnis einzusprin­gen versucht).

-Da immer wieder von einer fundierten Depressionsbehandlung die Rede ist, muss auch eingestanden werden, dass es immer mehr komplizierende Bedingungen gibt, deshalb auch der entsprechende Titel: Depressionsbehandlung unter komplizierenden Bedingungen, herausgegeben von den Professoren U. Hegerl (München) und P. Hoff (Aachen). Behandelt wird vor allem die somatische Komorbidität, also die Belastung durch zwei oder mehr organi­sche Störungen auf einmal. Beispielsweise Erkrankungen von Herz- und Kreislauf, im Bereich der Gehirngefäße (Schlaganfall, Hirngefäßverkalkung), durch Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Morbus Parkinson, Demenz, Epilepsien, Bluthochdruck sowie bei Alkoholabhängigkeit (im Alter nicht so selten, wie gerne verharmlost!) und bösartigen Er­krankungen. Ein weiteres Groß-Kapitel sind depressive Störungen im Rahmen des weib­lichen Zyklus und der Schwangerschaft (Beispiele: prämenstruelle dysphorische Störung, Wochenbett-Depression, Klimakterium, Schwangerschaft), die Altersdepression (ein infor­matives Kurz-Kapitel) und das, was man leichtere oder unterschwellige Depressionen nennt (die aber ein erhöhtes Risiko besitzen, zu einer schweren Depression auszuwachsen).

Was die UNI-MED-Bücher auszeichnet ist ihre unerreichte Lesefreundlichkeit, was das Layout anbelangt. Manchmal wird es auch als zu bunt und unruhig empfunden, doch die Vorteile dieser aufwendigen (und deshalb auch nicht ganz billigen) Herstellungsart überwiegen.

Wer sich also einen kurz gefassten und inhaltsdichten Eindruck über eine komplizierte Materie verschaffen will, dem sei dieses Buch empfohlen (wobei er sich dann im Anhang noch ein Bild von dem umfangreichen Angebot dieses Verlags machen kann, in Sachen „Psyche“ beispielsweise Psychiatrie, Kinder- und Jugend-Psychiatrie und -psychotherapie, Medizinische Psychologie/Soziologie, Psychosomatik/Psychotherapie u. a.

Auf jeden Fall wird eines deutlich: Depressionen mögen zunehmen, aus welchem Grund auch immer. Es mögen auch immer schwierigere Fälle vor (scheinbar) unlösbare Probleme stellen. Die Wissenschaft aber bietet ebenfalls immer mehr Informationszuwachs zu Diagnose, Ursachen, Therapie und Prävention eines Leidens, das nach wie vor zu den gefürchtetsten und tödlichsten (Suizidgefahr) im Bereich der Seelenheilkunde gehört (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).